Das eigene Selbst stärken

Leseprobe aus dem Ratgeber "Durch die Krise begleiten": Wie komme ich als begleitende Person mit der Veränderung durch die Krise klar und wie erkenne ich meine Bedürfnisse? Anhand des Modells der "Gewaltfreien Kommunikation" gibt der Beitrag konkrete Hilfestellungen.

Das eigene Selbst stärken
© PAL Verlag unter Verwendung eines Fotomotivs von unsplash.com

Für Begleitende ist es wichtig, nicht nur auf die von der Krise direkt Betroffenen zu achten, sondern auch die eigenen Bedürfnisse und Emotionen im Blick zu behalten.

Wie aber kann ich mich konkret stärken, wenn ich eine andere Person durch eine Krise begleite? Schließlich erlebe ich die meiste Zeit den Widerspruch, einerseits helfen zu wollen und mich andererseits nicht überfordern zu dürfen. Zudem vergessen die meisten Menschen, die eine:n andere:n durch eine Krise begleiten, dass sie ja auch selbst von der Krise betroffen sind. Daher ist es wichtig, diese besondere Phase im Leben nicht nur irgendwie zu überstehen, sondern sich bewusst mit ihr und den Gefühlen und Veränderungen, die sie hervorruft, auseinanderzusetzen. Denn nicht nur für die Person, die von einer Krise unmittelbar betroffen ist, verändern sich die Welt und der Alltag – auch diejenigen, die Betroffene begleiten, durchleben einen Wandel.

Veränderung tritt in den seltensten Fällen innerhalb von wenigen Augenblicken ein, wie wenn man einen Lichtschalter betätigt und es plötzlich hell oder dunkel wird. Sie durchläuft vielmehr verschiedene Phasen – wie bei einem Dimmer.

Der Prozess der Veränderung

In den vergangenen Jahrzehnten haben sich viele Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler darüber Gedanken gemacht, wie sie den Veränderungsprozess definieren und beschreiben können. Wir stellen hier das Sieben-Phasen-Modell nach Richard K. Streich vor, einem Wirtschaftsprofessor der Fachhochschule Paderborn. Er entwickelte das bekannte Modell der fünf Trauerphasen von Elisabeth Kübler-Ross weiter, einer schweizerisch-amerikanischen Psychiaterin, die sich in ihren Forschungen vor allem mit dem Sterbeprozess beschäftigt hat.

Nach Streich verläuft eine Veränderung, egal ob innerhalb einer Organisation oder eines Individuums, nach einem ähnlichen emotionalen Muster. Im Folgenden fokussieren wir uns auf den individuellen Veränderungsprozess.

Phase 1: "Das glaube ich jetzt nicht!"

In Phase 1, dem Schock oder, etwas positiver formuliert, der Überraschung, wird die Person mit einer Neuigkeit konfrontiert. Es handelt sich um einen sogenannten Point of no return, denn ab diesem Zeitpunkt können die Ereignisse nicht mehr zurückgenommen werden. Auslöser für den Veränderungsprozess können eine Krankheitsdiagnose, das Ende einer Beziehung oder auch eine Kündigung sein. Von diesem Moment an geht es nicht mehr zurück, der Prozess setzt unmittelbar ein. Die Person weiß, dass sich etwas für sie verändern wird, ob sie will oder nicht.

Phase 2: "Das stimmt nicht."

Die Tatsache, dass es nicht zu ändern ist, sorgt in Phase 2 für Ablehnung. Die Angst vor der Veränderung, vor allem aber die Sorge, dass sich alles zum Schlechten wandelt, sind in dieser Phase bestimmend. Deswegen verleugnen Personen, also auch Begleitende, die von der Krise eines anderen unmittelbar betroffen sind, oft die neuen Ereignisse.

Phase 3: "Dann ist es jetzt eben so."

Meist dauert Phase 2 nicht lang, da bald schon Phase 3, die rationale Akzeptanz, einsetzt. Die Person begreift, dass Verleugnung den Wandel nicht aufhalten wird, und sieht ein, dass sie sich selbst verändern muss, um angemessen auf die Neuentwicklung zu reagieren. Das bedeutet allerdings nicht, dass sie eine tatsächlich tiefgreifende Veränderung anstrebt, sondern lediglich oberflächliche Anpassungen vornehmen will, um sich situationsbedingt und kurzfristig aus der Lage zu befreien und das "alte" Leben fortführen zu können.

Phase 4: "Ich schaffe das."

Die rationale Akzeptanz geht fließend in die emotionale Akzeptanz der Phase 4 über. Allein kognitiv und vernunftmäßig eine Veränderung hinzunehmen reicht nämlich nicht aus – eine gefühlsmäßige Auseinandersetzung und echter persönlicher Wandel sind gefragt. Naturgemäß kann es eine Weile dauern, bis eine Person auch emotional "versteht", dass sie ihr gewohntes Verhalten verlassen und sich weiterentwickeln muss.

Phase 5: "Wie gehe ich damit um?"

Wenn der tiefste Punkt durchschritten ist und eine echte Wandlung sowohl rational wie auch emotional einsetzt, beginnt Phase 5, die Phase der Anpassung. Die Person beginnt, mit der Situation umzugehen, entwickelt vielleicht sogar neue Energie und Kraft und legt die Angst vor der Veränderung weitestgehend ab. Auch weitere Tief- oder Rückschläge können sie nicht mehr aus der Bahn werfen, denn sie hat akzeptiert, dass sie die Ereignisse nicht beeinflussen kann – nur ihr Verhalten anpassen.

Phase 6: "Vielleicht hat es auch etwas Gutes."

Diese Erkenntnis lässt die Person erkennen, dass sie die Veränderung meistern, ja sogar über sich hinauswachsen kann. Sie wird souveräner und fühlt sich emotional stabiler, erwirbt neue Fähigkeiten und Einsichten. Damit beginnt die Integration der Veränderung in den Alltag.

Phase 7: "Ich bin an der Veränderung gewachsen."

In der letzten Phase des Veränderungsprozesses, der Integration, hat die Person nicht nur das Unveränderliche, sondern auch ihre Reaktion darauf akzeptiert und ihr Verhalten den Gegebenheiten angepasst. Die Situation, die zu Beginn des Prozesses noch für Aufregung und Ablehnung gesorgt hat, ist mittlerweile selbstverständlicher Teil des eigenen Lebens geworden.

Der von uns vorgestellte Prozess zeigt: Bei einer Veränderung spielen eine Menge unterschiedliche, vielleicht sogar widersprüchliche Gefühle eine Rolle. Jedes Gefühl, das im Laufe eines solchen Anpassungs- und Veränderungsprozesses in dir aufkommt, hat deswegen seine Berechtigung – auch Wut, Verzweiflung oder Ärger, Ablehnung und Nichtwahrhabenwollen. Denn Gefühle sind Hinweisschilder auf manchmal verborgene Bedürfnisse.

Übung: Vom Gefühl zum Bedürfnis gelangen

Wie bei der Übung zum aktiven Zuhören bereits erwähnt wurde, hören wir nicht immer genau das, was die andere Person uns sagen will. Aber nicht selten wird durch das Gesagte bei uns ein Gefühl ausgelöst. Wir interpretieren und bewerten häufig die Inhalte des Gesprächs.

Das Modell der "Gewaltfreien Kommunikation" nach Marshall Rosenberg geht davon aus, dass jedem Gefühl ein unerfülltes Bedürfnis zugrunde liegt. Im Umkehrschluss bedeutet das, dass die Gefühle, die jemand durch das Gesagte bei uns auslöst, uns darauf hinweisen, dass wir selbst ein Bedürfnis haben, das bisher nicht erfüllt wurde. Sind Bedürfnisse erfüllt, fühlen wir uns "gut", sind sie nicht erfüllt, fühlen wir uns "schlecht". Das Motto, das hier zugrunde liegt, ist:

"Ich fühle, weil ich brauche …"

Dabei ist es wichtig zu unterscheiden, dass wir selbst für unsere Gefühle beziehungsweise Bedürfnisse verantwortlich sind. Nichts, was andere tun, lässt uns etwas fühlen, sondern wir fühlen selbst. Gefühle können von den Handlungen anderer ausgelöst werden, sie werden aber nicht von anderen verursacht. So kann die oder der andere zum Beispiel zu mir sagen: "Ich mach schon die Wäsche, du brauchst dich nicht darum zu kümmern!"

Und ich könnte hören: Der oder die denkt, ich kann nicht richtig waschen. In dem Moment fühle ich mich verärgert. Der Ärger ist vielleicht Hinweis auf das Bedürfnis, gesehen und ernst genommen zu werden oder auch die oder den anderen zu unterstützen.

Die Ursache meiner Gefühle sind also meine erfüllten oder unerfüllten Bedürfnisse. Andersherum verursache ich auch nicht die Gefühle von anderen Menschen. Sich das bewusst zu machen, kann ungemein entlastend sein. Für eine gute Kommunikation sind nach Rosenberg vier Schritte notwendig:

1. Schritt (a): Eine klare Beobachtung ohne Interpretation und Bewertung machen (im Beispiel: Er oder sie macht die Wäsche.)

2. Schritt (b): In der Kommunikation seine Gefühle erkennen und verstehen (im Beispiel: Ich ärgere mich.)

3. Schritt (c): Die Gefühle mit den Bedürfnissen in Verbindung bringen (im Beispiel: Ich möchte ernst genommen werden.)

4. Schritt (d): Anliegen formulieren, ohne Kritik und ohne Forderung (im Beispiel: Ich bin verärgert, weil ich mich nicht ernst genommen fühle. Ich habe den Eindruck, dass du mit der Art, wie ich Wäsche wasche, nicht zufrieden bist. Ich würde mir wünschen, dich mit dieser oder meiner Tätigkeit unterstützen zu dürfen.)

Zusammengefasst ergibt die Übung folgende Reihenfolge: Wenn a, dann fühle ich mich b, weil ich c brauche. Deshalb möchte ich jetzt gerne d.

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