Welche Menschen sind besonders empfänglich für Schuldgefühle? Erfahren Sie mehr dazu in diesem Beitrag, einem Auszug aus Doris Wolfs Ratgeber „Wenn Schuldgefühle zur Qual werden“.
Alle gesunden Menschen werden mit der Fähigkeit geboren, Schuldgefühle zu entwickeln. Einerseits gibt es nur sehr wenige Menschen, die sich noch niemals schuldig gefühlt haben. Es sind Menschen, die keine Normen von Gut und Böse entwickelt haben, oder solche, die es ablehnen, sich wegen eines Fehlers in ihrer gesamten Person zu verurteilen. Andererseits gibt es auch Menschen, die sich täglich mit Schuldgefühlen herumplagen. Es scheint so, als ob diese Menschen die Schuld geradezu auf sich ziehen. Sie fühlen sich für alles und jedes schuldig, wachen schon morgens mit einem Gefühl der Schuld auf.
Deren Persönlichkeit ist gekennzeichnet durch die folgenden Charakteristika:
1. Streben nach Perfektionismus
Sie haben unrealistisch hohe Erwartungen an sich selbst. Sie erwarten von sich, sich immer richtig zu verhalten und immer und überall ihre hohen moralischen Wertvorstellungen zu erfüllen. Sie erwarten von sich, niemals jemandem Schaden zuzufügen oder zu verletzen. Schon beim kleinsten Fehler verurteilen sie sich. In ihrem Kopf existiert ein Alles-oder-Nichts-Denken: Entweder ich mache alles richtig oder alles falsch. Sie tun sich schwer, Neues zu riskieren und Entscheidungen zu treffen, aus der Angst, es falsch zu machen.
2. Selbstzweifel und Minderwertigkeitsgefühle
Sie sehen sich als minderwertig, halten sich von Grund auf für schlecht. Die Reaktionen der Umwelt sehen sie durch diese Brille. Ein Lachen wird als Auslachen interpretiert, eine Kritik als vernichtende Verurteilung. Sie stellen eigene Bedürfnisse zurück, weil es ihnen wichtiger ist, dass es anderen gutgeht. Sie sprechen sich das Recht ab, eigene Wünsche anzumelden oder unberechtigte Forderungen zurückzuweisen. Sie haben Angst, andere erkennen ihre „Schlechtigkeit“.
3. Hohe Sensibilität und die Übernahme der Verantwortung für Probleme und Leid anderer
Sie sind daran geübt, formulierte und unausgesprochene Wünsche und Forderungen anderer zu erkennen. In hohem Maße fühlen sie sich als „Retter der Menschheit“ und Märtyrer, ohne dessen Hilfe andere umkommen oder unter ihren Problemen zusammenbrechen. Sie neigen dazu, sich für alles und jedes verantwortlich zu sehen. Sie überschätzen ihre eigene Verantwortlichkeit und unterschätzen den Einfluss anderer, von Ihnen unabhängiger, Faktoren.
4. Die Einstellung, die Gefühle anderer durch Ihr Verhalten steuern zu können
Sie glauben, für die Gefühle anderer hundertprozentig verantwortlich zu sein. Sie glauben, einen anderen Menschen kränken, verletzen und in die Drogenabhängigkeit oder den Tod treiben zu können. Wenn andere sich schlecht fühlen, dann glauben sie, deren Unwohlsein verursacht zu haben, und verurteilen sich dafür.
Gibt es demnach unterschiedliche Erziehungsprinzipien und Regeln für Männer und Frauen? Gibt es Regeln, die Mädchen/Frauen empfänglich für Schuldgefühle machen? Diese Fragen lassen sich mit ja beantworten. Schauen wir uns hierzu die Erziehung und Erziehungsideale für Frauen einmal näher an:
In vielen Kulturen werden Frauen als minderwertig betrachtet. Ja, in Indien und China geht man heute noch so weit, weibliche Babies zu töten. Auch in unserer Gesellschaft gilt ein frischgebackener Vater eines Stammhalters meist mehr als der einer Tochter. „Es ist halt nur ein Mädchen“, so wird die Geburt der Tochter kommentiert. Kleine Mädchen können unbewusst diese Abwertung verspüren und sich dafür schuldig fühlen, kein Junge zu sein. Auch als erwachsene Frauen bekommen sie den Einfluss dieser Abwertung zu spüren.
Frauen werden in vielen Berufsbereichen bei gleicher Arbeit geringer entlohnt als Männer und sind seltener in der oberen Etagen des Managements zu finden. Frauen dürfen in der kirchlichen Hierarchie nur auf den unteren Stufen mitwirken, in der Politik und Forschung ebenfalls kaum die Führungspositionen besetzen. Bis zum Erwachsensein haben die meisten Mädchen schon so viele Selbstzweifel und Minderwertigkeitsgefühle entwickelt, dass sie immer wieder nach Bestätigung von außen suchen und von ihr abhängig sind.
In meiner Praxis erlebe ich, dass wesentlich mehr Frauen sich mit Schuldgefühlen plagen als Männer.
Frauen quälen sich mit Schuldgefühlen, wenn ihr Mann sexuell unbefriedigt ist, wenn sie den Kindern einen Wunsch abschlagen, halbtags arbeiten gehen und die Kinder bei der Kinderfrau lassen, sich eine Putzfrau nehmen, die Mutter ins Heim bringen, die Eltern nicht oft genug zu besuchen, ihr Mann fremdgeht, der Familie das Essen nicht schmeckt, usw. Woran kann das liegen?
So weit waren wir uns einig, dass Schuldgefühle eine Folge unserer Bewertungen sind, etwas falsch gemacht zu haben, und der daran sich anschließenden Selbstverurteilung. Schuldgefühle entstehen aus einem Widerspruch zwischen uns auferlegten, von uns akzeptierten Regeln und unserem Verhalten.
Die Auswirkung auf die Schuldgefühle besteht in zweifacher Hinsicht: Ein geringes Selbstbewusstsein erhöht einerseits die Bereitschaft, sich für alles und jedes schuldig zu fühlen. Mit vielen Erklärungen und Entschuldigungen begründen Frauen ihr Verhalten. Andererseits führt ein Verstoß gegen die Erwartungen der Gesellschaft beispielsweise durch beruflichen Erfolg zu Schuldgefühlen.
Jungen lernen dagegen, sich durchzusetzen und Macht zu erringen. Es wird Wert auf Leistung, Selbständigkeit und Unabhängigkeit gelegt. Während Single-Männer durchaus von der Gesellschaft anerkannt werden und die berufliche Leistung in den Mittelpunkt gerückt wird, gelten Single-Frauen als „alte Jungfern, die keinen abgekriegt haben“.
>>> weiterlesen im Ratgeber Schuldgefühle
Weitere Leseproben:
Kapitel 1 Die Ursachen der Schuldgefühle
Kapitel 3 Sind Schuldgefühle berechtigt?
Kapitel 11 Schuldgefühle und Sexualität
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Warum geht es explizit um Frauen? Das ist Sexistisch! Ich als Mann quäle mich tagtäglich mich genau diesen beschriebenen Schuldgefühlen rum, ohne erkennbaren Grund. Wäre schön, auch die Sicht des Mannes hier mit einfließen zu lassen :(
Lieber Manu,
in der Tat behandelt dieser Beitrag im Besonderen Schuldgefühle aus der Sicht von Frauen. Durch diese Fokussierung ist er aber noch nicht sexistisch, denn wir haben ja zahlreiche weitere Beiträge und Leseproben zum Thema veröffentlicht, die natürlich auch die Situation von Männern einbeziehen. Sie finden die Links im Anschluss an den Beitrag. Viel Freude beim Lesen!
Ihre PAL Redaktion