Lernen durch Einsicht

Lernen durch Einsicht (in der Psychologie auch als kognitives Lernen bezeichnet) bedeutet, dass wir ein bestimmtes Problem und seine Zusammenhänge verstehen und lösen können, ohne den Lösungsweg langwierig zu üben oder zu memorieren. Vielmehr verbinden wir frühere (Lern-)erfahrungen mit all dem, was zum aktuellen Problem führt oder was es ausmacht, und verändern unsere Haltung, unsere Herangehensweise und unseren Blick auf diese Faktoren.

Zur Einsicht kommen wir also, indem wir uns im Geist bestimmte Lösungswege vorstellen auf Grundlage unserer Erfahrungen und der jeweiligen Gegebenheiten, die wir vorfinden. Anders ausgedrückt: Wir finden den Lösungsweg dadurch, dass wir dabei immer wieder unseren Blickwinkel verändern und die einzelnen Elemente einer Problemsituation aus verschiedenen Perspektiven betrachten und bewerten.

Die so gewonnene Einsicht erleben wir schließlich als ein Aha-Erlebnis, das in uns gute, ja euphorische Gefühle auslösen kann. Wir wissen nun, wie das Problem zustande kam, wie wir es lösen und wie wir es in Zukunft möglicherweise vermeiden können. Bestenfalls können wir unseren neu gefunden Lösungsweg auch auf andere Probleme übertragen.

Das Lernen durch Einsicht findet als intellektueller und kognitiver Vorgang in unserem Gehirn statt. Das bedeutet, wir müssen den Kopf möglichst frei von Ängsten, Sorgen oder anderen negativen Gefühlen haben, um möglichst neutral und klar auf die Situation zu schauen, die wir vorfinden, und nicht von ihr emotional gefangen genommen zu werden. Und wir müssen in der Lage sein, die Aufgabe bzw. Problem möglichst ganz zu erfassen, mit allen beeinflussenden Faktoren: Wie ist die Situation zustandegekommen? Durch was wurde sie begünstigt? Welche Auswirkungen hat sie? Wie beeinflusst sie uns und andere? Etc. 

Wenn wir etwas durch Einsicht gelernt haben, dann wird das unser Verhalten verändern. Und zwar sobald wir die Gelegenheit dazu bekommen, unsere erlebte Lernerfahrung in unserem Alltag, unserer Realität zu überprüfen. Anders ausgedrückt: Wenn wir die Lösung einmal erschlossen und verstanden haben, dann bleibt uns das. Wir können es weder verlernen noch vergessen oder aus der Übung kommen, wie bei anderen Arten des Lernens. Denn im Aha-Effekt verändert sich unsere Denkstruktur und das führt dazu, dass wir uns aller Wahrscheinlichkeit nach in zukünftigen ähnlichen Situationen leichter tun, auf eine Lösung zu kommen. Zudem gelingt es uns auch leichter, unser neues Wissen auf ähnliche Problemsituationen anzuwenden (Transfer).

Auch wenn der Aha-Effekt (die Einsicht) meist plötzlich im Moment des Verstehens erfolgt, ist der Weg dorthin in mehrere Schritte oder auch Phasen unterteilt. Die meisten wissenschaftlichen Studien und Veröffentlichungen entwickeln ein 6-Phasen-Modell, das im Folgenden kurz skizziert wird: 

Phase 1: Erkennen des Problems

In dieser Phase begegnen wir einem Problem bzw. nehmen eine Situation als für uns oder andere problematisch wahr. Es erzeugt in uns eine gewisse innere Spannung, die in uns den Wunsch nach einer Lösung hervorruft.

Phase 2: Trial and Error

In dieser Phase nähern wir uns der Problemlösung spielerisch und spontan durch freies Versuchen und Ausprobieren, indem wir gelernte Lösungsansätze bzw. erlerntes Verhalten auf das Problem anwenden. Das kann klappen, es kann aber auch frustrieren. Deshalb wechseln wir, wenn wir dazu emotional und mental in der Lage sind, meist schnell zur nächsten Phase.

Phase 3: Umstrukturieren der eigenen Erfahrungen

Nun betrachten wir das Problem von einem intellektuelleren Standpunkt aus und fangen an, unsere bereits gemachten Erfahrungen umzustrukturieren, beispielsweise indem wir diejenigen aus Phase 2 mit früheren Erfahrungen in ähnlichen Situationen abgleichen oder indem wir uns durch Erfahrungen (Wissen) anderer helfen lassen. Warum hat das diesmal nicht funktioniert und früher schon? Welche Informationen fehlen uns und wie können wir sie uns besorgen? So entwickeln wir eine erste Vorstellung von der Lösung.

Phase 4: Abgleichen und Überprüfen

In dieser Phase gleichen wir unsere Lösungsvorstellung, also die Einsicht, mit unseren Erfahrungen ab und betrachten dabei das Problem als Ganzes aus verschiedenen Blickwinkeln. So passen wir unser Wissen Stück für Stück an die Gegebenheiten an. So fügen sich die einzelnen konstruktiven Gedanken zu einem Ganzen zusammen und der funktionierende Lösungsansatz entsteht.

Phase 5: Der Aha-Effekt

Schließlich verknüpfen wir alle Komponenten unseres entwickelten und mit früheren Erfahrungen abgeglichenen Lösungswegs und setzen ihn geistig um. Dieser Schritt führt in uns zum berühmten Aha-Erlebnis.

Phase 6: Wissenstransfer

In dieser nachgelagerten Phase des Lernprozesses geht es darum, seine neues Erfahrungen und sein neues Wissen auf ähnliche Problemsituationen und Herausforderungen zu übertragen. Nach dem Motto: Was mir hier geholfen hat, kann dort nicht schaden. Einen Versuch ist es wert. Und der Effekt ist in den meisten Fällen positiv.

Zusammengefasst geht es beim Lernen durch Einsicht darum, eine Problemstellung neu wahrzunehmen und so zu einer Lösung zu finden. Diese Lernmethode ist natürlich auf viele unterschiedliche Arten von Problemstellungen anwendbar, von klassischen Schulaufgaben bis hin zu Aufgaben in der Arbeit. Interessant ist aber auch, dass wir auch psychische Belastungen, Krisen, Probleme und sogar Störungen mithilfe dieser kognitiven Lernmethode angehen können. 

Vor allem Angststörungen lassen sich so überwinden. Besonders in der Konfrontationstherapie geht es in der Regel darum, eine neue Wahrnehmung, einen neuen Blick auf die jeweilige Angst zu entwickeln und eingefahrene Verhaltensweisen bzw. innere Abwehrmechanismen zu durchbrechen. Wenn du beispielsweise von einer anderen Person gezeigt bekommst, dass das Balkongeländer selbst bei einem harten Stoß mit der Hüfte kein bisschen nachgibt, kannst du deine bisherigen negativen Erfahrungen von Höhenangst mit einer neuen, positiven Erfahrung abgleichen und das gewonnene Aha-Erlebnis ermöglicht es dir, dich Schritt für Schritt weiter auf den Balkon rauszutrauen. Diese positive Verhaltensänderung wirst du niemals wieder vergessen. Und sie wird dich auch in anderen Situationen, in denen du Höhenangst empfindest, zu einem mutigeren Verhalten ermuntern. Mehr noch, es nimmt deiner Angst als Ganzes etwas an Kraft und Raum in deinem Leben und damit auch anderen spezifischen Angststörungen.

Eine gute Möglichkeit, das Lernen durch Einsicht anzuwenden, ist, dir ein bestehendes Problem vorzunehmen und die im Beitrag beschriebenen Phasen nacheinander durchzuspielen. Am besten notierst du dir jeden deiner Schritte in einem Notiz- oder Tagebuch. Das gibt dir die Möglichkeit, mehr Abstand zu deinen Gedanken und Gefühlen zu bekommen und dir deine bisherigen und neuen Erfahrungen zu verdeutlichen. Wenn du nicht weiterkommst, tausche dich aus mit einem kompetenten und hilfsbereiten Menschen in deinem Umfeld: mit deiner Partnerin oder deinem Partner, im Kollegen- oder Freundeskreis. Such dir gezielt eine Person, von der du annimmst oder weißt, dass sie eine Lösung gefunden hat und lass dir von ihr helfen. 

Viel Freude bei deinem nächsten Aha-Erlebnis!

Weitere Arten des Lernens sind:

• Lernen durch Verstärkung
• Lernen durch Versuch und Irrtum
• Lernen am Modell