I do it my way – #128

In diesem Beitrag aus der Reihe "Erfahrungen aus der Praxis" zeigt Gert Kowarowsky, wie du es schaffst, dein eigenes Tempo und deinen eigenen Rhythmus zu finden, statt anderen um dich herum hinterherzuhetzen.

I do it my way – #128
© PAL Verlag, unter Verwendung einer Illustration von Christina von Puttkamer

Vincent fühlte sich nach seinem Umzug völlig überfordert von seinem neuen Umfeld. Um ihn herum waren alle viel schneller unterwegs als er selbst. Er hatte den Eindruck, sich plötzlich in einer Welt zu befinden, die ständig in Bewegung ist. Er spürte den Druck, schneller und effizienter sein zu müssen, als es ihm eigentlich entsprach. Er fühlte sich richtiggehend ausgehebelt, nicht mehr er selbst.

Das Therapieziel war klar: Es ging darum, Vincent zu vermitteln, dass auch er dazu geboren war, ganz und gar er selbst zu sein, ihn daran zu erinnern, dass jeder Mensch einzigartig ist – mit seinen Stärken, Schwächen, Träumen und Zielen.

Warum es wichtig ist, die eigene Geschwindigkeit zu kennen

Ich erinnerte mich an ein Experiment, das Vincent helfen könnte zu erkennen, dass das, was für eine Person funktioniert, nicht zwangsläufig für die andere passen muss. In einer Vorlesung in Heidelberg in Entwicklungspsychologie hatte Prof. Weinert damals darüber referiert, dass bei aller Veränderlichkeit einzelner Eigenschaften und Fähigkeiten der eigene innere Rhythmus über Jahrzehnte hinweg bei den meisten Menschen unverändert bleibt. Konkret beschrieb er uns eine Studie, in der zwei Kinder an einem Schwungrad drehen durften. Das eine Kind drehte langsam, genüsslich und nahezu meditativ das Rad und hatte ganz offensichtlich seine Freude daran. Das zweite Kind drehte wie ein Wildfang in hoher Dynamik, so schnell es nur irgend konnte, und hatte ebenfalls ganz offensichtlich seinen Spaß damit.

Das Experiment wurde fünf, zehn und fünfzehn Jahre später mit denselben beiden, jetzt bereits erwachsenen Versuchspersonen wiederholt. Und siehe da: Die erste Person drehte auch als Erwachsene:r immer noch in innerer Heiterkeit genüsslich langsam das Rad, während die andere nach wie vor mit großer Freude dynamisch und mit größtmöglicher Geschwindigkeit am Rad drehte.

Nicht nur für Vincent, sondern für jeden von uns gilt die daraus auf der Hand liegende Schlussfolgerung: Wenn du in deiner eigenen Geschwindigkeit unterwegs bist, hast du den größten Spaß und den geringsten Belastungsgrad. Wann immer du glaubst, schneller oder langsamer als dein inneres Metrum laufen und arbeiten zu müssen, wirst du dich früher oder später unwohl fühlen.

Dein Tempo kann mal langsamer und mal schneller sein

Das bezieht sich auch auf viele andere Bereiche in deinem Leben. Der Song "My Way", weltbekannt durch Frank Sinatra und mittlerweile mehr als 150 Mal gecovert, ist wohl die beste Hymne auf das Arbeiten und Leben im eigenen Stil. Gut, wenn du am Ende deines Lebens oder auch mitten darin sagen kannst, alles, was du getan hast, auf deine eigene Weise getan zu haben – "I did it my way".

Dies schließt jedoch nicht aus, in spezifischen Situationen einen kleinen Spurt einzulegen, der über dein ansonsten gemächliches Tempo hinausgeht, wenn du zum Beispiel den Bus noch erreichen möchtest. Andererseits ist beim Spaziergang mit deiner Oma unter Umständen ein langsameres Tempo angemessen, als es deiner üblichen Gehgewohnheit entspricht, um einen gemeinsamen Winterspaziergang wirklich genießen zu können.

Deine bewusste Entscheidung, in bestimmten Situationen langsamer oder schneller zu gehen, bereichert dein Leben mehr, als starr und stur darauf zu beharren: "So mache ich das immer!" Du hast in jedem Moment die Freiheit, dich bewusst für das Unvertraute zu entscheiden. Tue, was du tust, auf deine Weise und genieße deine Experimente und bewussten Entscheidungen, es immer wieder auch einmal anders zu machen. Denn dies ist dann ebenfalls your way.

Genieße die Fülle des Lebens. Genieße sie auf deine Weise, in deiner Geschwindigkeit. Genieße den Flow, der immer dann entsteht, wenn du dein Ding so machst, dass du dir selbst gerecht wirst und gleichzeitig in tiefer Verbundenheit bleibst mit den Menschen um dich herum. I‘m doing it my way – you‘re doing it your way, und immer wieder können wir dann gemeinsam den schönen Tanz des Lebens miteinander genießen. Genieße deine Wege in deiner Geschwindigkeit und genieße deinen eigenen Rhythmus ebenso wie die Pulsationen in deinem Tempo in der Begegnung mit den anderen, denen du auf deinen Wegen begegnest.

Bleib entspannt, wenn du in den sozialen Netzwerken ständig mit Bildern von Menschen konfrontiert wirst, die scheinbar mühelos ihre Ziele erreichen und dabei immer einen Schritt voraus sind. Bleib entspannt, wenn dir suggeriert wird, dass Glück und Erfolg nur im Highspeed-Modus zu erreichen seien. Glaube es einfach nicht. Jeder Mensch hat seinen eigenen Weg und sein eigenes Tempo. Was zählt, ist nicht, wie schnell du vorankommst, sondern dass du in deiner von dir gewählten, dir wichtigen Richtung unterwegs bist.

Do it your way

Nach einigen Wochen kam Vincent wieder, nun deutlich entspannter und weniger getrieben und verzweifelt. Er erklärte mir: "Ja, es war hilfreich, mir meines eigenen Tempos bewusst zu werden und mich entsprechend zu verhalten. Wenn ich in meinem eigenen Tempo unterwegs bin, merke ich, dass ich bewusster und achtsamer lebe. Ich nehme die kleinen Dinge des Alltags wieder intensiver wahr. Ich erlaube mir jetzt wieder mit gutem Gewissen, Pausen einzulegen, wenn ich sie brauche, mir Ruhezeiten zu nehmen, wenn ich erschöpft bin. Ich erlaube mir wieder, mir regelmäßig Zeit zu nehmen, um über meine Ziele, Werte und Prioritäten nachzudenken. Ich mache mir in unüberschaubaren Situationen immer wieder klar, was mir wirklich wichtig ist, was ich erreichen möchte und warum. Ich gehe jetzt meinen Weg immer mehr in meinem eigenen Tempo. Es ist mein Leben, und ich lebe es auf meine Weise. Und dennoch – oder gerade deshalb –fühle ich mich dadurch auch wieder viel verbundener mit den Menschen um mich herum."

Wie Vincent hast auch du das Recht, dein Leben so zu gestalten, wie es für dich am besten ist, auf dich selbst zu hören und deinen eigenen Rhythmus zu finden. Es ist nicht wichtig, in welchem Tempo du unterwegs bist auf deinem Lebensweg, sondern dass du in deiner eigenen Richtung unterwegs bist und dabei du selbst bleibst. Und wenn du magst, pfeife, summe oder singe bisweilen nach der bekannten Melodie:

I did it my way …

Dein Gert Kowarowsky

Erfahrungen aus der Praxis …

… ist die psychotherapeutische Kolumne mit Inspirationen für deine Lebensgestaltung und den Umgang mit schwierigen Lebensthemen. Du findest alle Teile der Kolumne und mehr über den Autor Gert Kowarowsky hier.

Wie hilfreich war der Beitrag für dich?
4.79 Sterne (39 Leserurteile)

Dein Kommentar

Hinterlasse einen Kommentar und helfe anderen mit deiner Erfahrung.

Bitte die zwei gleichen Bilder auswählen:

Waltraud schreibt am 08.12.2024

Wo finde ich die Kommentare von anderen Lesern?


Inhalt des Beitrags   
Inhalt des Beitrags 
 Warum es wichtig ist, die eigene Geschwindigkeit zu kennen
 Dein Tempo kann mal langsamer und mal schneller sein
 Do it your way
 Erfahrungen aus der Praxis …
Weitere Beiträge
 Folge 1: Selbstwahrnehmung
 Folge 2: Haltung
 Folge 3: Achtgeben auf seinen Körper