In diesem Beitrag aus der Reihe "Erfahrungen aus der Praxis" spricht Gert Kowarowsky darüber, unter welchen Bedingungen wir zu unserem Wort stehen sollten und wann nicht mehr.
"Was mache ich, wenn das, was ich zugesagt habe, jetzt für mich nicht mehr stimmig ist?" Celine saß ziemlich verzweifelt vor mir, als sie mir diese Frage stellte.
Sie hatte ihrem Bruder versprochen, ihm Geld für sein nächstes Auto zu leihen, das er dringend benötigte, um zu seinem Arbeitsplatz zu kommen. Sie wollte ihrem Bruder auf diese Weise helfen, seine Arbeitsstelle zu behalten; mit den öffentlichen Verkehrsmitteln war das beim besten Willen nicht zu machen. Ihrem Bruder zuliebe hatte sie sich dazu entschlossen, obwohl sie selbst eine leidenschaftliche Umweltschützerin ist und dem Individualverkehr sehr kritisch gegenübersteht.
Als sie aber erfuhr, dass er schon seit Monaten überhaupt nicht mehr dort arbeitete, sondern einen neuen Arbeitsplatz gefunden hatte, der allerdings leicht mit dem öffentlichen Nahverkehr zu erreichen war, wollte sie mit ihrem Geld nicht auch noch dazu beitragen, dass der Individualverkehr nun doch um ein weiteres unnötig fahrendes Auto zunahm. Sie hatte ihm aber ihr Wort gegeben …
Mir erklärte sie: "Für mich bedeutet ein Versprechen, dass ich die Verantwortung für die Einlösung dieses Versprechens übernehme. Für mich hat das einen hohen Stellenwert. Für mich war das nicht nur eine Zusage oder eine einfache Aussage, für mich war es ein echtes Versprechen. Doch jetzt fällt es mir schwer, mit Überzeugung weiterhin zu meinem gegebenen Wort zu stehen. Ja, es käme mir sogar unmoralisch vor, seine Lügerei auch noch mit meinem Geld zu unterstützen."
Ja, sein Wort zu halten und es auch als moralische Verpflichtung zu betrachten hilft, in unseren sozialen Kontakten Sicherheit und Entspannung zu gewährleisten, sei es in unseren Freundschaften, in der Familie oder im beruflichen Kontext. Dein Wort zu halten, zeigt deinen Freunden und anderen Sozialpartner:innen, dass man sich auf das, was du sagst, verlassen kann. Es zeigt, dass du bereit bist, Verantwortung zu übernehmen für das, was du sagst, und dich entsprechend verhältst. Andere können sich entspannen. Sie müssen nicht damit rechnen, durch deinen möglichen Wankelmut wieder und wieder enttäuscht zu werden.
Und dennoch gibt es auch Situationen, in denen du dich aus guten Gründen entscheiden magst, ein gegebenes Wort wieder zurückzunehmen. Diese Situationen bedürfen jedoch der Transparenz und einer klaren Kommunikation.
Gute Gründe dafür sind solche, in denen das Festhalten an deinem gegebenen Wort unvernünftig, unethisch oder gar schädlich sein würde. Ein guter Grund, dich nicht mehr an dein gegebenes Wort zu halten, liegt z.B. dann vor, wenn sich die Umstände seit deiner Zusage erheblich verändert haben und dein ursprüngliches Versprechen nun nicht mehr hilfreich dabei ist, ein angestrebtes, wünschenswertes Ziel zu erreichen. Es gilt auch dann, wenn deine Zusage auf der Basis von Betrug oder verheimlichter, unangemessener Risiken gegeben wurde. In vielen solcher Fälle ist es verantwortungsvoller, von deinem gegebenen Wort zurückzutreten, um größere Schäden zu vermeiden.
Ich gab Celine eine Klärungsmatrix, mit deren Hilfe sie ihre eigene Entscheidung treffen konnte, ob sie ihrem Bruder das ursprünglich zugesagte Geld dennoch oder aus guten Gründen nicht geben wollte. Vielleicht können auch dir diese Fragen an dich selbst helfen, wenn du dich mal in einer ähnlichen Situation wie Celine befindest.
Wenn du dein Wort gegeben hast und nun vor der Entscheidung stehst, ob du dich weiterhin daran halten möchtest oder nicht, stelle dir folgende Fragen:
Und die wichtigste Selbsterforschungsfrage, die du dir selbst stellen kannst, ist folgende:
Wie auch immer du dich entscheidest, lass dein Gegenüber teilhaben an deinen inneren Prozessen. Sobald du für dich selbst Klarheit gefunden hast, führe ein offenes Gespräch mit ihr oder ihm über die veränderten Bedingungen oder die Gründe, warum du das ursprüngliche Versprechen nun nicht mehr oder nur noch teilweise oder in veränderter Form halten wirst.
Genau das tat Celine. Sie sprach ganz offen mit ihrem Bruder, über all ihre Gedanken, die sie sich zu ihrer ursprünglichen Zusage gemacht hatte. Sie erklärte ihm ihre ursprüngliche gute Absicht und all das, was sich für sie nun durch die neuen Umstände verändert hatte. Die beiden konnten danach trotz ihrer Absage ihre tiefe geschwisterliche Verbundenheit auf eine gesunde Weise fortsetzen.
Ich wünsche dir viel Mut dabei, an deinen Versprechen das zu ändern, was dir, deinem Gegenüber, allen Wesen, der belebten oder unbelebten Welt schädlich sein würde
UND
viel Freude und Mut dabei, zu dem zu stehen, was du versprochen hast, was für dich, dein Gegenüber, allen Wesen, der belebten und unbelebten Welt gut und hilfreich ist.
Dein Gert Kowarowsky
… ist die psychotherapeutische Kolumne mit Inspirationen für deine Lebensgestaltung und den Umgang mit schwierigen Lebensthemen. Du findest alle Teile der Kolumne und mehr über den Autor Gert Kowarowsky hier.
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