In diesem Beitrag aus der Reihe "Erfahrungen aus der Praxis" zeigt Gert Kowarowsky, warum ein Denken in Kategorien wie "wertvoll" "oder "wertlos" uns behindern und wie wir uns befreien können vom Be- und Verurteilen.
Häufig höre ich in den Therapiestunden Sätze wie: "Ach, der ist doch nichts wert!", "Der taugt doch nichts!", "Mit der will ich nichts zu tun haben!" Manchmal sagen Menschen, wenn sie über andere sprechen, auch Sätze wie: "Die ist aber toll!", "Der ist ein guter Kerl!" oder "Die ist die Allerbeste!"
Der Wert einer Person wird oft davon abhängig gemacht, ob ich das Gegenüber mag, ob es sich so verhält, wie ich es mir vorstelle, wie es meinem Wertesystem entspricht. Und oft fällen wir ein Urteil über einen anderen Menschen als Ganzes. Meist ist uns dabei nicht bewusst, dass wir dies nur aus einer Stichprobe von Verhaltensweisen unseres Gegenübers tun. Wir schlussfolgern aus unseren Beobachtungen dann auf Eigenschaften, die die oder der andere hat oder nicht hat. Ja, wir bilden uns ein, sogar oft aus nur wenigen Erfahrungen mit der anderen Person, auf ihr wahres Wesen schließen zu können.
Doch wer ist gut? Wer ist schlecht? Wer ist wertvoll oder wertlos?
Es gibt keinen Beweis für die Aussage "Sie ist gut" oder "Er ist schlecht". Das Einzige, was wir realistischerweise über andere sagen können, ist: "Er macht das gut oder schlecht" oder "Sie hat eine gute bzw. schlechte Eigenschaft", jeweils nach einem bestimmten Standard oder unserer Meinung nach.
Es gibt also keine Antwort auf die Frage "Wie viel ist mein Gegenüber eigentlich wert? Ist er oder sie ein guter Mensch?" Eine solche Frage ist unbeantwortbar. Sinnvollere Fragen, die du dir stellen kannst, sind: "Was tut mein Gegenüber?", "Welche Eigenschaften kann ich in den Handlungen erkennen?" oder "Welchen Wert hat das, was der oder die andere gerade tut?"
Solche Fragen sind sinnvoll, weil sie sich nach Eigenschaften oder Verhaltensweisen erkundigen, die wahrgenommen werden können und bis zu einem Punkt gemessen werden können. Wenn du zum ersten Mal mit jemandem Tennis spielst, kann es z. B. sein, dass sie oder er im Vergleich zu dir über eine bessere Rückhand verfügt. Aber daraus folgt nicht, dass sie oder er eine tolle Tennisspielerin oder ein großartiger Tennisspieler ist.
In dem Versuch, den Wert eines anderen Menschen zu bestimmen, liegt oft ein tiefes Ego-Spiel verborgen, bei dem ich zu beweisen hoffe, dass ich im Vergleich zu anderen doch nicht so schlecht, hässlich oder dumm bin. Die Tatsache, dass die meisten Menschen ständig damit beschäftigt sind, andere einzuschätzen und zu bewerten, bedeutet deshalb noch lange nicht, dass dies auch nötig ist.
Meine Patientinnen und Patienten lade ich bei diesem Thema immer dazu ein auszuprobieren, wie es sich anfühlt, die nächsten vier Wochen auf dieses Ego-Spiel zu verzichten.
Wenn du magst, kannst auch du dich auf dieses Experiment einlassen. Statt das Ego-Spiel zu spielen, kannst du dich darum bemühen, im Kontakt mit einem Menschen, der neu in deinem sozialen Netzwerk aufgetaucht ist oder den du als wertlos "abgeschrieben" hast, so viele unterschiedliche Seiten wie möglich an ihm zu entdecken. In der Paartherapie mit Rainer und Melanie lautete eine der ersten Aufgaben deshalb: "Versuche deine Partnerin, deinen Partner, so oft wie möglich dabei zu ›erwischen‹, wie er oder sie etwas sagt oder tut, das du wirklich gut findest." Die abwertende Gewohnheit, sowohl von Rainer als auch von Melanie, nur noch ins innere schwarze Buch einzutragen, was das Gegenüber falsch oder unpassend gesagt oder getan hat, konnte auf diese Weise erfolgreich ausgehebelt werden.
Max Frisch hat es einst schön formuliert:
Unsere Meinung, dass wir das Andere kennen, ist das Ende der Liebe, jedes Mal … Man macht sich ein Bildnis. Das ist das Lieblose, der Verrat.
Ein Mensch ist weder gut noch schlecht. Ein Mensch ist ein Mensch und hat immer viele sehr unterschiedliche und oftmals entgegengesetzte Eigenschaften und Verhaltensweisen. Diese können und dürfen beurteilt werden. Wenn du aber, von diesen Urteilen ausgehend, wie durch Zauberei zu der Beurteilung kommst: "Aha, so ist der andere also in Wirklichkeit", dann denkst du irrational. Vom rationalen Standpunkt aus betrachtet, ist es günstiger, gar kein "So also ist mein Gegenüber"-Konzept zu haben, weil ein solches Konzept doch nie mit der Wirklichkeit in Übereinstimmung zu bringen ist. Die beste Sichtweise, die beste Bewertung, die du gegenüber jedem menschlichen Wesen einnehmen kannst und die nicht zu unerwünschten Emotionen führt, ist folgende:
"Aha, ich habe mich nicht getäuscht. Hier steht kein geklontes außerirdisches Wesen vor mir. Ich habe es mit einem realen, fehlbaren menschlichen Wesen zu tun."
Dies ist eine für alle Menschen gleichermaßen zutreffende Eigenschaft. Wir alle sind fehlbare menschliche Wesen. Dieses Konzept basiert auf Tatsachen, da jeder Mensch sowohl körperlich als auch geistig falsch funktionieren kann.
Wenn du diesen Blick in dir kultivieren kannst und ihn sowohl auf andere als auch auf dich selbst anwendest, ist das Thema "wertvoll oder wertlos" vom Tisch. Du hast dich dann frei gemacht vom Be- und Verurteilen. Du und jeder Mensch, der dir begegnet, ist dann frei. Du und jeder Mensch, der dir begegnet, genießt dann Wertfreiheit. Verhaltensweisen können beurteilt und verändert werden. Der Wert eines Menschen wächst oder fällt dadurch jedoch nicht. Du änderst, was du zu ändern vermagst, und gibst dir die Freiheit, anderen klar zu sagen, was dir an ihrem Verhalten gefällt oder nicht gefällt. So wird es einfach, sowohl dich selbst als auch andere in ihrer Persönlichkeitsvielfalt zu akzeptieren.
Genieße diesen wertfreien Raum in all deinen Begegnungen mit den Vielen in dir und den Vielen in all den Menschen, denen du begegnest.
Dein Gert Kowarowsky
… ist die psychotherapeutische Kolumne mit Inspirationen für deine Lebensgestaltung und den Umgang mit schwierigen Lebensthemen. Du findest alle Teile der Kolumne und mehr über den Autor Gert Kowarowsky hier.
Lust auf mehr positive Denkanstöße in Beiträgen, Podcasts, Videos und Lebensweisheiten? Bestelle den kostenlosen PAL-Newsletter und werde eine oder einer von 40.000 Abonnenten.
PAL steht für praktisch anwendbare Lebenshilfe aus der Hand erfahrener Psychotherapeuten und Coaches. Der Verlag ist spezialisiert auf psychologische Ratgebertexte für psychische Probleme und Krisensituationen, aber auch auf aufbauende Denkanstöße und Inspirationen für ein erfülltes Leben. Alle Ratschläge und Tipps werden auf der Grundlage der kognitiven Verhaltenstherapie, der Gesprächstherapie sowie des systemischen Coachings entwickelt. Mehr zu unserer Arbeit und Methodik hier
PAL Verlagsgesellschaft GmbH
Rilkestr. 10, 80686 München
Tel. für Bestellungen: +49 89/ 901 800 68
Tel. Verlag: +49 89/379 139 48
(Montag–Freitag, 9–13 Uhr)
E-Mail: info@palverlag.de
psychotipps.com
partnerschaft-beziehung.de
lebensfreude-app.de
praxis-und-beratung.de
Hinterlasse einen Kommentar und helfe anderen mit deiner Erfahrung.