Was ist meine Baustelle – und was nicht? – #135

In diesem Beitrag aus der Reihe "Erfahrungen aus der Praxis" zeigt Gert Kowarowsky, wann du Verantwortung übernehmen, aber auch ablehnen solltest, um in Balance zu bleiben. 

Was ist meine Baustelle – und was nicht? – #135
© PAL Verlag, unter Verwendung einer Illustration von Christina von Puttkamer

Fabian kam mit allen Anzeichen eines beginnenden Burnouts zum Erstgespräch. Er fragte mich, wie er unterscheiden lernen könnte, wofür er eigentlich wirklich verantwortlich sei und wofür nicht: "In vielen Alltagssituationen, wenn jemand etwas von mir möchte, bin ich immer wieder unsicher, ob das meine Baustelle ist oder nicht."

Ziemlich schnell wurde deutlich, dass ihm dies sowohl im beruflichen als auch im privaten Miteinander extrem schwerfiel. Deshalb analysierten wir zuerst, was es eigentlich bedeutet, für etwas verantwortlich zu sein.

Was ist Verantwortung und bist du fähig und bereit, sie zu übernehmen?

In seiner tiefsten Bedeutung bezieht sich das Wort "Verantwortung" auf die Fähigkeit, eine Antwort auf etwas geben zu können, die Idee, zu etwas eine angemessene Antwort geben zu können. 

Um also zu wissen, wofür ich Verantwortung übernehmen kann und wofür nicht, muss ich zunächst klären, ob ich überhaupt in der Lage bin, eine angemessene Antwort zu geben. Bei an dich herangetragenen Bitten für etwas die Verantwortung zu übernehmen, gilt es deshalb zuerst ehrlich und realistisch mit dir und deinen Ressourcen zu sein und dir folgende Fragen zu beantworten:

  • Habe ich die Fähigkeit dazu?
  • Habe ich die Zeit dazu?
  • Habe ich die dazu notwendigen Mittel?
  • Habe ich die Legitimation dazu?
  • Habe ich im Moment die dazu notwendigen geistigen und körperlichen Energien?

Und:

  • Bin ich auch dazu bereit, für diese an mich herangetragene Aufgabe die Verantwortung zu übernehmen?

Erst wenn beides zusammenkommt, deine Fähigkeit und deine Bereitschaft, erst wenn du entschieden hast, dass du bereit und fähig bist, eine Handlung auszuführen, erst dann kannst du Verantwortung übernehmen. Dann kannst du angemessene Antworten geben, weshalb du dich so und nicht anders entschieden hast. Dann bist du bereit und fähig, für die daraus entstehenden Konsequenzen einzustehen.

Immer wenn du sagst, dass du Verantwortung übernimmst, entscheidest du dich aktiv und bewusst dazu, zur Bewältigung von Aufgaben und Herausforderungen beizutragen und die damit verbundenen Konsequenzen zu akzeptieren, unabhängig davon, ob sie positiv oder negativ sind.

Es ist immer deine Entscheidung, Verantwortung zu übernehmen oder abzulehnen

Nach der ehrlichen und gewissenhaften Beantwortung der vorausgegangenen Fragen ist es ein Zeichen von Reife, Selbstbewusstsein und sozialer Verantwortung, wenn du dich entschließt, Aufgaben zu übernehmen. Oder auch aus guten Gründen abzulehnen: Du solltest (plakativ ausgedrückt) als Krankenpfleger keine Blinddarm-OP übernehmen, nur weil gerade keine Chirurgin zur Stelle ist. Es ist verantwortlich, Aufgaben abzulehnen, für die dir die Kompetenz fehlt.

Setze Grenzen, wenn dich die Verantwortung überfordert

Entscheidend ist außerdem, dass du dir erlaubst, gesunde Grenzen zu setzen, um Überforderung zu vermeiden. Diese Grenzen kannst du mit der Frage von Fabian, was deine Baustelle ist und was nicht, gut erkennen.

Deine Baustelle ist es, wenn jemand mit Problemen oder Aufgaben auf dich zukommt, die direkt mit deinen eigenen Verantwortlichkeitsbereichen und deinen diesbezüglichen Handlungen oder Entscheidungen zusammenhängen. Andernfalls ist es wahrscheinlich nicht deine Baustelle. Dann darfst du dir erlauben, nein zu sagen und deinen eigenen Baustellen weiterhin die volle Aufmerksamkeit zukommen lassen. Dies hilft dir, Überlastung zu vermeiden. 

Erlaube dir, deinem Gegenüber klar zu sagen, was du als Verantwortungsbereich für dich gewählt hast und was nicht. Das hilft, Missverständnisse zu vermeiden.

Dein Nein schließt nicht aus, dem Gegenüber zuzuhören und die Hilfe anzubieten, zu der du fähig bist, ohne die Verantwortung zu übernehmen und die Angelegenheit zu deiner Baustelle werden zu lassen.

Achte auf deine Ressourcen, wenn du neue Aufgaben übernimmst

Bei allen neu an dich herangetragenen Aufgaben sei ganz besonders kritisch und realistisch bezüglich der damit verbundenen Zeit und der Energie, die du dafür aufbringen musst, um diese neuen Anforderungen zu bewältigen. Achte darauf, dass du keine zusätzliche Baustelle übernimmst, die verhindert, dass du genügend Zeit und Energie für deine eigenen Bedürfnisse hast, und die womöglich deine eigene Gesundheit oder dein Wohlbefinden gefährdet.

In einer der letzten Sitzungen kam Fabian freudestrahlend an und berichtete davon, wie er das, was wir theoretisch erarbeitet hatten, praktisch umsetzen konnte: "Es war fast haargenau so, wie wir es besprochen hatten: Ein Kollege kam auf mich zu und bat mich, bei einem Projekt zu helfen. Es war sein Projekt, nicht meines. Normalerweise wäre ich sofort darauf eingegangen, hätte alles stehen und liegen lassen, was meine eigenen Projekte betraf und hätte mich voll und ganz hineingestürzt, hätte im wahrsten Sinne seine Baustelle zu meiner gemacht. Da tauchte klar und deutlich in mir auf: Ich bin für meine Aufgaben verantwortlich. Ich kenne nicht all die Details seiner Aufgabe, an der er schon seit Monaten arbeitet. Ich bin tatsächlich nicht verantwortlich und besitze wirklich nicht die Fähigkeit, eine angemessene Antwort zu geben.

Ich spürte eine tiefe Entspannung in mir, klar zu sehen, dass dieses hier nicht meine Baustelle ist, für die ich verantwortlich wäre. In diesem Gefühl der inneren Freiheit konnte ich meinem Kollegen aufmerksam zuhören, woran er gerade zu knabbern hatte, was im Moment sein aktuelles Problem war, dessentwegen er auf mich zugekommen war. Ich konnte ihm sogar einige wertvolle Tipps geben und ihm bei einer bestimmten Frage helfen. Und ich bin jetzt zufrieden mit mir, nicht wieder wie früher reflexhaft die gesamte Verantwortung für sein Projekt übernommen zu haben. Und obwohl ich den Rest der Woche mit einigen Herausforderungen zu kämpfen hatte bei meinem eigenen Projekt, fühle ich mich weder ausgelaugt noch erschöpft, sondern richtig belebt und energetisiert. Zu tun, wozu ich mich entschlossen, wofür ich verantwortlich bin, aber nein zu sagen, wo ich nicht verantwortlich bin, und mir die Erlaubnis zu geben, nicht für alles verantwortlich sein zu müssen, fühlt sich echt gut an!"

Wie ist das aber in einer echten Notsituation wie z. B. einem Unfall? Egal, ob in deinem privaten oder beruflichen Umfeld oder unterwegs auf der Straße – in einem akuten Notfall stellt sich nicht mehr die Frage, wessen Baustelle das nun ist. Falls du helfen kannst, hilf. Übernimm für den Augenblick die fremde Baustelle als deine eigene und gib sie wieder ab, sobald das verantwortungsvoll möglich ist.

Klar zu entscheiden, wofür du Verantwortung übernehmen möchtest, schenkt dir Energie und Lebensfreude

Wann immer du dir klar darüber bist, wofür du Verantwortung übernehmen willst und wofür nicht, kannst du diesen Energiefluss in dir spüren, dieses gewachsene Selbstbewusstsein. Je klarer du weißt, worin deine Stärken und Schwächen liegen, umso klarer kannst du dich entscheiden, welche Baustelle beruflich und privat du anzugehen bereit bist.

Verantwortung zu übernehmen, Entscheidungen zu treffen, was du zu deiner Baustelle erklärst und was du nicht bereit bist zu deiner Baustelle werden zu lassen, ist immer mit mehr Lebensfreude und mehr Lebensenergie verbunden. Da niemand perfekt ist, sind Fehler ein unvermeidlicher Teil jeder Verantwortung, die du zu übernehmen bereit und fähig bist. Die optimale Haltung, damit umzugehen, besteht darin, Fehler zu akzeptieren und aus ihnen zu lernen, anstatt sich selbst dafür abzuwerten oder anderen die Schuld dafür zu geben.

Je klarer du bist, was deine Baustelle ist und was nicht, desto mehr können sich deine Mitmenschen dir gegenüber entspannen, weil sie Klarheit haben, was du zu tun bereit bist und was nicht. Je klarer du bist, was deine Baustelle ist und was nicht, desto mehr bleibt deine Energie gebündelt und deine Erfolge nehmen zu. Je klarer du bist, was deine Baustelle ist und was nicht, desto lebendiger fühlst du dich und deine Lebensfreude fließt wieder.

Viel Freude bei deiner verantwortlichen Arbeit auf DEINEN Baustellen wünscht dir

Dein Gert Kowarowsky

Erfahrungen aus der Praxis …

… ist die psychotherapeutische Kolumne mit Inspirationen für deine Lebensgestaltung und den Umgang mit schwierigen Lebensthemen. Du findest alle Teile der Kolumne und mehr über den Autor Gert Kowarowsky hier.

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Inhalt des Beitrags 
 Was ist Verantwortung und bist du fähig und bereit, sie zu übernehmen?
 Es ist immer deine Entscheidung, Verantwortung zu übernehmen oder abzulehnen
 Setze Grenzen, wenn dich die Verantwortung überfordert
 Achte auf deine Ressourcen, wenn du neue Aufgaben übernimmst
 Klar zu entscheiden, wofür du Verantwortung übernehmen möchtest, schenkt dir Energie und Lebensfreude
 Erfahrungen aus der Praxis …
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 Folge 2: Haltung
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