Wie pflege ich die Quelle meiner Lebensfreude? – #133

In diesem Beitrag aus der Reihe "Erfahrungen aus der Praxis" zeigt Gert Kowarowsky, wie uns Nachsicht und Einsicht dabei helfen können, mit den Höhen und Tiefen des Lebens besser umzugehen.

Wie pflege ich die Quelle meiner Lebensfreude? – #133
© PAL Verlag, unter Verwendung einer Illustration von Christina von Puttkamer

"Manchmal sprudelt die Lebensfreude so richtig in mir. Und manchmal fühle ich mich wie ein Tümpel, der von Tag zu Tag trüber wird." Mit diesen Worten saß Cedric vor mir und schaute mich erwartungsvoll an.

Natürlich wünschen wir uns alle, immer gut drauf zu sein. Wer wollte das nicht? Und so begannen wir gemeinsam systematisch zu analysieren, worin ein guter Weg bestünde, sich dem Ziel dauerhaft sprudelnder Lebensfreude anzunähern.

Der Wechsel von hellen und dunklen Momenten gehört zum Leben

Der Wechsel von Tag und Nacht, von Sommer und Winter, von guten Zeiten und schlechten Zeiten ist natürlich und unvermeidlich. Er ist ein Teil des Lebens. Radikale Akzeptanz, die Gelassenheit, es so zu nehmen, wie es kommt, sind die Antworten vieler philosophischer und psychotherapeutischer Ansätze für den Umgang mit dieser grundlegenden Tatsache des Lebens. Übermäßig lange und leidend in den dunklen Phasen zu verbleiben, ist jedoch nicht nötig.

Wenn du beobachtest, wie deine Quelle der Lebensfreude manchmal sprudelt und woran es liegt, wenn sie das nicht tut, kannst du oft das Gleiche beobachten wie bei einer realen Wasserquelle. Wenn sie ungehindert ihrer Natur folgt, quillt klar und sprudelnd immer neues frisches Wasser nach. Wenn sie jedoch mit Unrat verstopft ist, verwandelt sich der Quellbereich schnell in einen trüben Tümpel.

Sprudelnd bleiben zu können, bedeutet immer wieder loszulassen. Seien es eigene fixe Ideen darüber, wie etwas sein sollte oder gemacht werden müsste, oder seien es erstarrte Meinungen über andere, denen gegenüber du Ressentiments oder Unversöhnlichkeiten in dir trägst.

Nachsicht und Einsicht stärken deine Lebensfreude im Auf und Ab des Alltags

Um im hektischen Alltag immer wieder innere Ruhe, Harmonie und ein heiteres Fließen deiner Lebensfreude-Quelle zu finden, ist es notwendig, zwei wesentliche Fähigkeiten in dir zu kultivieren: Nachsicht und Einsicht. Sie sind die Garanten dafür, dass die Quelle deiner Lebensfreude nie dauerhaft versiegen wird. Diese beiden Fähigkeiten gilt es immer wieder zum Einsatz zu bringen: anderen ihre Taten und Worte nachsehen zu können und für dich selbst einsehen zu können, wo sich so manche deiner verhärteten, fixen Ideen wieder verflüssigen lassen.

Nachsicht verhilft dir zu innerer Gelassenheit

Jedes Mal, wenn du anderen gegenüber nachsichtig und tolerant sein kannst, wenn du die Fehler anderer verzeihen und auf kleine Unzulänglichkeiten mit Verständnis statt Ärger reagieren kannst, wird deine Quelle der Lebensfreude weiterhin ungehindert sprudeln können. Oftmals ist das gar nicht so schwer, da viele Konflikte aus Missverständnissen oder unbedeutenden Fehlern entstehen, die durch Nachsicht, Verständnis und Empathie gelöst werden können.

Manchmal kann es dir aber auch schwerfallen, deinem Gegenüber etwas nachzusehen oder zu vergeben. Dies ist besonders dann der Fall, wenn du dich tief verletzt fühlst. In solch einem Fall ist es wichtig, dir das selbst nachsehen zu können.

Vergebung ist ein Prozess, der seine eigene Zeit braucht. Hilfreich ist es dafür, wenn du dir folgendes klar machst: Vergeben bedeutet nicht gutzuheißen, was der oder die andere gesagt oder getan hat. Vergebung bedeutet auch nicht immer, die Beziehung unverändert fortzusetzen. Es besteht tatsächlich kein Widerspruch zwischen Vergebung und dem Setzen klarer Grenzen. Vor allem dann nicht, wenn diese Grenzen helfen, zukünftiges erneutes Fehlverhalten deines Gegenübers zu verhindern, bevor ein neuer Konflikt entsteht.

Um den Quell deiner Lebensfreude erneut sprudeln zu lassen, hilft es sehr, dir immer wieder bewusst zu machen, dass Vergebung in erster Linie ein Akt ist, der dir dabei hilft, dich selbst wieder besser zu fühlen. Vergebung befreit zuallererst dich selbst von negativen Gefühlen und ermöglicht es dir, wieder fließend und sprudelnd zu werden. Vergebung löst Verhärtungen in dir und hilft dir, den Fluss des Lebens wieder zuzulassen und weiterzugehen.

Einsicht, der unzensierte Blick auf dich selbst

Die zweite Instandhaltungstechnik für ein ungehindertes Sprudeln deiner Lebensfreude-Quellen ist der unzensierte Blick auf dich selbst. Aushalten, was du in dir zu erkennen vermagst. Ein Einsehen mit dir selbst zuzulassen.

Einsehen bezieht sich auf deine Fähigkeit, einen ungeschönten Blick auf dich selbst nehmen zu können und nehmen zu wollen, um deine eigenen Trips und Flips, deine eigenen fixen Ideen, Fehler und Schwächen zu erkennen und anzunehmen. Natürlich erfordert das Mut, und es ist wahrlich nicht immer einfach, ehrlich zu dir selbst zu sein.

Eine irrationale Idee, die die meisten meiner Patientinnen oder Patienten in sich tragen und die es ihnen schwer macht, dies zu tun, ist die Idee, perfekt sein zu müssen. Die Kröte zu schlucken, dass auch du nicht perfekt bist, ist dabei schon die halbe Miete. Diese Einsicht führt natürlicherweise zu einer gewissen Demut und Gelassenheit. Sie führt zu einer menschlicheren und realistischeren Erwartungshaltung dir selbst gegenüber und gegenüber anderen.

So verändert sich alles mit Einsicht und Nachsicht

Nach diesen Grundsatzüberlegungen beschloss Cedric, sich von nun an wieder regelmäßig Zeit zu nehmen, um über seine Handlungen und Gedanken nachzudenken. Früher hatte er schon einmal eine Zeit lang Tagebuch geführt, was ihm sehr gutgetan hatte. Irgendwie war es im Alltag aber wieder untergegangen. Jetzt hilft es ihm, wie er sagte, wieder sehr dabei, sich erneut bewusster zu sein, womit er gerade hadert, was ihn begeistert und wie er zu einzelnen Menschen und wichtigen Ereignissen in seinem aktuellen Leben steht.

Am schwersten fällt es ihm, sich selbst und anderen gegenüber eine eigene Schuld zuzugeben. Dies stellt nach wie vor eine ganz besondere Herausforderung für ihn dar. Dennoch hat er sich fest vorgenommen, bei eigenem Fehlverhalten nicht weiter nach Ausreden zu suchen oder die Schuld auf andere abzuwälzen. Und interessanterweise beobachtet er, dass die Einsicht in die eigene Unvollkommenheit es ihm leichter macht, sie auch anderen nachzusehen. Je mehr Geduld er sich selbst gegenüber aufbringt, desto leichter fällt ihm dies auch anderen gegenüber.

Und noch eine Erkenntnis konnte Cedric mit mir teilen: "Ich gestehe mir jetzt zu, dass ich nicht immer alles verstehe. Manchmal verstehe ich mich selbst nicht, manchmal ist es mir nicht möglich, die Sichtweise meines Gegenübers vollständig zu verstehen. Doch auch wenn ich mich selbst oder mein Gegenüber nicht immer voll verstehen kann, bin ich bereit, auf eine dauerhafte verhärtete Ablehnung zu verzichten. Die andere Person und mich selbst manchmal nicht zu verstehen, bedeutet nicht, sie oder mich selbst nicht weiterhin als menschliches Wesen tief wertschätzen zu können."

Dem gibt es nichts hinzuzufügen. 

Das Allerbeste bei der täglichen Instandhaltung deiner Lebensfreude-Quellen wünscht dir

Dein

Gert Kowarowsky

Erfahrungen aus der Praxis …

… ist die psychotherapeutische Kolumne mit Inspirationen für deine Lebensgestaltung und den Umgang mit schwierigen Lebensthemen. Du findest alle Teile der Kolumne und mehr über den Autor Gert Kowarowsky hier.

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Inhalt des Beitrags 
 Der Wechsel von hellen und dunklen Momenten gehört zum Leben
 Nachsicht und Einsicht stärken deine Lebensfreude im Auf und Ab des Alltags
 Nachsicht verhilft dir zu innerer Gelassenheit
 Einsicht, der unzensierte Blick auf dich selbst
 So verändert sich alles mit Einsicht und Nachsicht
 Erfahrungen aus der Praxis …
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