Ein überraschender Blick auf Lebensfreude – #113

In diesem Beitrag der Serie "Erfahrungen aus der Praxis" zeigt Gert Kowarowsky, wie wir unsere Freude besser kennenlernen und gegen Stress und Belastungen einsetzen können.

Ein überraschender Blick auf Lebensfreude – #113
© PAL Verlag, unter Verwendung einer Illustration von Christina von Puttkamer

Lebensfreude ist für depressive Patientinnen und Patienten oft ein Fremdwort. Manche versuchen, sich damit zu trösten, indem sie den Buddha zugeschriebenen Satz zitieren: „Leben ist Leiden.“

Ralf seinerseits, der sich als Student der Indologie in der vedischen Philosophie auskennt, ist gerade dabei, seine Masterarbeit zu schreiben über die Aussage Shankaras, eines vedischen Weisen der Vorzeit, dem folgender Satz zugeschrieben wird:

„Die Ausdehnung von Glückseligkeit ist der eigentliche Zweck der Schöpfung - und wir alle sind hier, um uns am Leben zu erfreuen und Lebensfreude auszustrahlen.“

Freude kann Stress vertreiben

In depressiven Phasen wählt manche oder mancher den Weg, sooft wie möglich Partys zu feiern, um sich nicht mit den existenziellen Fragen des Daseins zu konfrontieren und um negative Gefühle zu ignorieren.

Therapeutisch betrachtet ist Freude eine der Grundemotionen. Sie entsteht, wenn uns etwas besonders Schönes widerfährt oder wenn wir etwas als positiv oder erfolgreich erleben. Dieses Gefühl ist jedoch immer untrennbar mit körperlichen Reaktionen verbunden, die wiederum ganz wesentlich von chemischen Vorgängen in unserem Gehirn gesteuert werden. Genauer gesagt, von chemischen Vorgängen in unserem Belohnungszentrum.

Das Belohnungszentrum ist eine komplexe Ansammlung von Nervenzellen im Mittelhirn. Wenn wir Freude empfinden, werden Glückshormone ausgeschüttet. Glückshormone wiederum lassen uns aufmerksamer werden und Situationen intensiver erleben. Eine Zunahme von Intensitätserleben ist damit verbunden und die Lebensfreude steigt.

Das subjektive Glückserleben hat jedoch eine sehr große Bandbreite. Vom wohligen Gefühl, traurigen Blues zu hören oder selbst zu singen, über eine stille Heiterkeit bis hin zum Erleben freudvoller Ekstase. Neurobiologisch tummeln sich je nach dem erlebten Gefühl der Freude dann Dopamin, Endorphin, Oxytocin sowie mehr Sauerstoff im Blut. Die Körperreaktionen sind intensiviert bei gleichzeitig verändertem Gehirnwellenmuster und veränderter Herztätigkeit. Das Stresshormon Cortisol ist im Zustand der Lebensfreude kaum vorhanden und somit machtlos.

So kannst du deine Freude erforschen

Therapeutisch arbeite ich gerne mit Intensitätsskalen, die von 0 bis 10 reichen. Schwarz oder weiß, alles oder nichts, immer oder nie – das Denken in diesen Kategorien zu überwinden, ist ein wichtiger Schritt hin zu mehr Lebensfreude. Denn unser Erleben liegt meist irgendwo zwischen diesen Extremen.

Sophia meinte: „Wenn ich die Immer-gut-drauf-Menschen in der Werbung sehe und mich damit vergleiche, fühle ich mich jedes Mal doppelt deprimiert.“

Innerhalb der Therapie besteht deshalb eine Aufgabe ganz oft darin, die Bandbreite des eigenen Erlebens von Freude zu erforschen. Hier gibt es sehr viele Nuancen, sowohl von Mensch zu Mensch als auch innerhalb jedes einzelnen Menschen: Wie fühlt es sich für mich jetzt in mir an, wenn ich Freude empfinde? Welche Intensität hat es? Ganz gering? Mittel? Stark? Ganz intensiv? Null oder drei oder sieben?

Passt vielleicht das Wort "Freude" gar nicht so richtig? Ist es eher Zufriedenheit? Wenn ja, wie genau geht es mir, Zufriedenheit zu empfinden? Wie fühlt es sich für mich jetzt in mir an, wenn ich Zufriedenheit empfinde? Welche Intensität hat es? Ganz gering? Mittel? Stark? Ganz intensiv? Null oder drei oder sieben?

Die gleichen interessanten „Forschungsfragen“ kannst du dir stellen, wenn deine aktuelle Lebensfreude durch andere Begriffe besser beschrieben ist.

Wie ist es in dir,

  • wenn du Heiterkeit empfindest?
  • wenn du Begeisterung empfindest?
  • wenn du Fröhlichkeit empfindest?
  • wenn du Zuneigung empfindest?
  • wenn du Liebe empfindest?
  • wenn du Lust empfindest?
  • wenn du Fröhlichkeit, Vergnügtheit, Lebendigkeit, Ekstase, Unbeschwertheit, Dankbarkeit und/oder … empfindest?

Lebensfreude ist mehr als ein gutes Gefühl

Insgesamt ist Lebensfreude viel mehr als nur ein gutes Gefühl. Lebensfreude basiert auf einer komplexen neurobiologischen Grundlage und beeinflusst dein Wohlbefinden und deine zwischenmenschlichen Beziehungen. Es geht nicht darum, immer gut drauf sein zu wollen. Das ist eine ungesunde Einstellung. Sondern es geht darum, die ganze Bandbreite deiner Lebensfreude zu erfahren.

Tief verankerte Lebensfreude schließt die radikale Akzeptanz alles Schmerzlichen genauso mit ein wie die Akzeptanz von Geburt und Tod, Gesundheit und Krankheit, Haben und Nichthaben. Stabile Lebensfreude erfordert, den gesamten Emotionskreis in deinem Leben zu akzeptieren: Ärger und Wut, Trauer und Verzweiflung, Freude und Ekstase, Angst und Panik, Stolz und Arroganz, Liebe und Zuneigung, Ekel und Widerwillen, Schuld und Scham, Ruhe und Stilles-in-dir-Sein. Und natürlich die unendliche Vielzahl der Mischungsverhältnisse dieser Grundgefühle.

ALLE Emotion zu schätzen und dir zu erlauben, sie bewusst zu erleben, ist die gesündeste Grundlage einer kraftvollen, krisenstabilen Lebensfreude. Schmerz ist manchmal unvermeidlich. Leiden dagegen immer! Denn leiden wirst du immer nur dann, wenn du ein Nein hast zum Schmerz.

Kristin Neff, Professorin für Psychologie und Persönlichkeitsentwicklung, drückt das in einer mathematischen Formel so aus:

Leiden = Schmerz x Widerstand

Bei null Widerstand gegenüber dem Schmerz ist Leiden nicht vorhanden, da ja Schmerz mal null nur null Leiden ergibt.

Der Weg zu einer gesunden, dauerhaften Lebensfreude lässt sich klar beschreiben: Erlaube deiner Lebensfreude ihre eigene Wellenbewegung, erlaube ihr ihre eigene Intensität, erlaube ihr, sich in jedem Moment neu anzupassen, erlaube deiner Lebensfreude das tiefe JA zu allem, was du fühlst, sei es unangenehm oder angenehm. Und dies in der ganzen Bandbreite von null bis zehn.

Die Bandbreite von Lebensfreude ist vielfältig. Sie ist biologisch, psychologisch, sozial und von physikalischen Umweltbedingungen beeinflussbar. Lebensfreude reicht von der inneren Gelassenheit und Heiterkeit der Seele bis hin zur ekstatischen Glückseligkeit. Sie verweigert sich keinem Gefühl, keiner Intensität und keiner noch so intensiven Stille.

Lebensfreude als psychophysiologisches Gesamterleben schließt immer die Akzeptanz allen unvermeidbaren Schmerzes mit ein, ebenso wie die Akzeptanz aller erlebbaren Glückseligkeit. Deshalb:

Folge dem JA – folge deiner Lebensfreude!

Dein Gert Kowarowsky

Erfahrungen aus der Praxis …

… ist die psychotherapeutische Kolumne mit Inspirationen für deine Lebensgestaltung und den Umgang mit schwierigen Lebensthemen. Du findest alle Teile der Kolumne und mehr über den Autor Gert Kowarowsky hier.

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Erika schreibt am 12.05.2024

Ein Geschenk am Muttetagsmorgen! Danke für alles zu Lesende über das Thema Lebensfreude. Sie ist bei mir etwas verdeckt durch viele Ereignisse, Krankheit, Tod naher Menschen, das Kennenlernen neuer Menschen in der
Familie gemeint sind Schwiegersöhne. Wunderbar einfach die Bereicherung durch 3 Enkelinnen, aber auch neue Reibungspunkte mit zwei Töchter. Das
Alter kommt machtvoll, muß auch bewältigt werden. Aber der Punkt Lebensfreude tief vergraben ist sie einfach immer da oft mit Humor,
Erinnerungen an zwei lebensfrohe Eltern, die immer gut aufgelegt und für alles ansprechbar waren. Wirklich erstrebenswert, solche guten Eigenschaften. Aber ich muß erst 74 Jahre alt werden, um das alles zu begreifen. Und daß sogar die engen Menschen um mich herum eben nicht diese fundamentalen Eigenschaften haben. Freude und Achtung vor jedem Menschen. Negatives so schnell wie möglich abzulegen. Dann ist man wirklich geschützt vor allen Widrigkeiten. Ich bin heute am Muttertagsmorgen um 8 Uhr sowas von gestärkt allein durch das Lesen von Lebensfreude und wünsche jedem Menschen, diese wunderbaren Ratschläge von Pal für sich umsetzen zu können. Sie sind ein Geschenk des Himmels. Ich kann in schlechten Momenten davon zehren. Danke
für Alles! Was für ein Geschenk!

Ellenritter schreibt am 12.05.2024

Ja, was Herr Kowarowsky schreibt tut immer gut.


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 Freude kann Stress vertreiben
 So kannst du deine Freude erforschen
 Lebensfreude ist mehr als ein gutes Gefühl
 Erfahrungen aus der Praxis …
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