In diesem Beitrag aus der Reihe "Erfahrungen aus der Praxis" beschäftigt sich Gert Kowarowsky mit dem verzwickten Verhältnis zwischen Genuss und schlechtem Gewissen und zeigt, wie wir uns trotzdem unsere Lebensfreudefähigkeit erhalten können.
Worüber reden wir, wenn wir von Versuchungen sprechen?
Eine Versuchung ist, wenn du das Verlangen verspürst, etwas zu tun, wozu ein anderer Teil in dir sagt: „Tu es nicht!“ Oder im umgekehrten Fall, wenn du z. B. Gründe suchst, etwas weiterhin vor dir herzuschieben, obwohl du weißt, es ist höchste Zeit anzufangen.
Versuchungen sind jedem von uns vertraut, sie sind ein allgegenwärtiger Teil unseres Lebens. Sie begegnen uns vor allem in den Bereichen, in denen wir feste Überzeugungen haben, was eigentlich wirklich gesund für uns wäre, was wir eigentlich essen und trinken sollten, was wir wirklich zu tun hätten oder was in moralischer Hinsicht wirklich die einzige und richtige Verhaltensweise wäre. Doch woher kommt dann die Versuchung, dich gegen deine eigenen Überzeugungen zu verhalten?
Im Mittelalter war das für niemanden eine Frage. Verantwortlich war der, dessen Namen man nicht nannte. Alles, was dich zu Handlungen verführte, was nach den Regeln in dir nicht getan sein sollte, war ebenso teuflisch wie auch das Umgekehrte, das dich verführte, etwas nicht zu tun, was nach den Regeln in dir getan werden sollte.
Verführung, Verlockung, Versuchung, Reiz, Anziehung – viele Formulierungen, die sich auf das Gleiche beziehen: Tu etwas, was dir Belohnung verspricht, tu etwas nicht, was Mühsal bedeutet.
Letztlich jedoch sind Versuchungen eine Einladung zu mehr Lebensfreude, zu mehr Glückseligkeit. Woher also stammt der negative Unterton, das schlechte Gewissen gegenüber den inneren Einladungen zu mehr Lebensfreude?
Ein schlechtes Gewissen, ein Kampf ist nur möglich, wenn du klare Vorstellungen darüber hast, was du erreichen möchtest, was dein Ziel ist, wovon du dich nicht abbringen lassen möchtest.
Was aber, wenn deine Ziele getragen sind von Dogmatik, fixen Vorstellungen, tiefsitzenden irrationalen Überzeugungen, nicht hinterfragten Regeln und Gesetzen? Regeln und Vorstellungen, von denen du überzeugt bist, nach ihnen handeln zu müssen, um gesund und glücklich zu sein.
Ganz schön verzwickt.
"Ja, soll es denn falsch sein, Vorsätze zu haben? Ja, soll es denn falsch sein, sich moralisch und ethisch richtig zu verhalten?", fragte Richard, der schuldbewusst und verzweifelt über sich selbst vor mir saß, nachdem er wieder einmal genau das Gegenteil von dem getan hatte, was er sich vorgenommen hatte. "Ganz sicher nicht!"
Die schier unlösbare Aufgabe, so viel Lebensfreude wie möglich in dein Leben zu bringen, ohne dir durch vermeintlich richtiges Tun oder Lassen Leid zu schaffen, bewog wohl den Weisen Laotse zu den tiefgründigen Worten:
Wenn Gesetzmäßigkeit verloren geht, entstehen Gesetze.
Die Herausforderung besteht somit darin, bei allem starken Willen, bei aller Resilienz gegenüber Verführungen, wach zu bleiben darüber, wohin dich dieser Verführungsimpuls führen möchte. Liegt vielleicht die Erfüllung eines höheren Ziels in dem Verführungsangebot? Oder möchte dich eine Verlockung dazu verleiten, einem kurzfristigen Genuss den Vorzug zu geben, der deine körperliche und geistige Lebensfreudefähigkeit mittelfristig und langfristig negativ beeinflussen wird?
Laotse fordert dich auf, hinzuspüren und auf Stimmigkeit zu überprüfen, ob dich eine Verlockung vielleicht sogar zu mehr dauerhafter Lebensfreude einladen möchte, jenseits deiner fixen Ideen davon, was richtig oder falsch ist.
„Die Formulierung fixe Idee“, erklärte ich Richard, „lädt dich immer wieder dazu ein zu überprüfen, ob es hier und jetzt stimmig ist, an deinem Vorsatz festzuhalten oder ob ein anderes Verhalten jetzt hilfreicher wäre, deine Zufriedenheit auf Dauer zu gewährleisten.“
Keine Regel, kein Gesetz entbindet dich von deiner persönlichen Verantwortung dir und anderen und der belebten und unbelebten Welt gegenüber.
Zu tun, was richtig ist, und nicht zu tun, was nicht richtig sein könnte.
Das scheint eine gute Grundlage für ethisches Verhalten zu sein. Die Herausforderung besteht darin, flüssig zu bleiben, weich, mitfühlend. Ist es hier und jetzt wirklich stimmig, wenn ich mich "richtig" verhalte? Ist es jetzt wirklich unstimmig, wenn ich etwas unterlasse zu tun?
Hilfreich ist es, wenn du dir in kritischen Situationen innerlich darüber Klarheit verschaffen kannst, was hier und jetzt dein Ziel ist. Wenn dir dein Ziel klar vor Augen steht, wenn es dir wichtig ist, es zu erreichen und wenn du zuversichtlich bist, dass es auch in deiner Macht liegt, dann hast du eine gute Basis für deine Entscheidungen. Dann ist es leicht zu tun, was hilfreich dabei ist, dein Ziel zu erreichen, und bleiben zu lassen, was dir dabei im Wege stehen könnte.
Wichtig ist zudem deine Bewusstheit darüber, wann es stimmig ist, ein Ziel durch ein anderes, in diesem Moment höherwertiges Ziel zu ersetzen: Du sitzt am Schreibtisch und arbeitest an einem wichtigen Bericht, der unbedingt bis morgen fertiggestellt sein sollte. Dein Hund windet sich jedoch unüberhörbar vor Schmerz, weil er einen Knochen erwischt hat, der jetzt gesplittert in seinem Hals steckt. Offensichtlich ist es dann keine Frage mehr, ob es noch stimmig wäre zu denken: "Bleib dran, kümmere dich nicht um das da draußen in der Welt. Du hast dir fest vorgenommen, jetzt deinen Bericht zu schreiben und dich durch nichts und niemanden davon abhalten zu lassen – also schreib ihn!"
Winkt hier das Teufelchen, das dich vom Weg abbringen möchte, oder das Engelchen, das dir einen menschlicheren, ethischeren, lohnenderen, segensreicheren Weg aufzeigen möchte, als den, den du dir vorgenommen hattest.
Versuchungen zu widerstehen, ist immer einen Versuch wert ist. Es stärkt deine Selbstdisziplin, steigert dein Selbstwertgefühl und führt zu langfristigen Belohnungen. Dich gemäß deiner Ziele zu verhalten, ist ein Zeichen von Selbstachtung und Integrität. Sei dir jedoch darüber im Klaren, dass der Grundstein für ein erfülltes und erfolgreiches Leben beides ist:
Versuchungen zu widerstehen, wenn sie lebensförderlichen Zielen im Wege stehen und Versuchungen zu folgen, wenn sie dich einladen, angemessener, menschlicher, undogmatischer, liebevoller mit dir und anderen umzugehen.
Folge jeder Versuchung auf den Grund. Schau genau hin. Stelle jeder Versuchung die entscheidende Frage: Hinderst du mich daran, mein Ziel zu erreichen, oder hilfst du mir, ein weitaus angemesseneres Ziel zu erreichen? Lerne zu erspüren, was für dich, deine Liebsten und das ganze Universum zu tun oder zu lassen stimmig ist und was nicht.
Lass dich dabei von der Weisheit Laotses begleiten:
Wenn Gesetzmäßigkeit verloren geht, entstehen Gesetze.
Dir das Allerbeste auf deinem Weg durchs (neue) Jahr
Dein Gert Kowarowsky
… ist die psychotherapeutische Kolumne mit Inspirationen für deine Lebensgestaltung und den Umgang mit schwierigen Lebensthemen. Du findest alle Teile der Kolumne und mehr über den Autor Gert Kowarowsky hier.
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