In diesem Beitrag aus der Reihe "Erfahrungen aus der Praxis" zeigt Gert Kowarowsky, wie wichtig Pausen und Regeneration gerade in stressigen Zeiten sind und wie du sie in dein Leben integrieren kannst.
Die meisten Menschen, die im Zustand völliger Erschöpfung zu mir kommen, fühlen sich überfordert. Überfordert von all dem, was noch unerledigt ist und getan werden soll. Und je mehr To-dos anliegen umso weniger bleibt Zeit für Stille und Regeneration.
Tobias arbeitet im Drei-Schicht-System in einem Metallbetrieb, kümmert sich allein um seine 8-jährige Tochter und balanciert Beruf, Haushalt und Vaterrolle. Sein Leben ist getaktet wie eine Maschine – Schlaf wird Mangelware, Pausen kennt er nicht.
Leonie hat sich ihren Traumjob ergattert in einem jungen IT-Start-up. Sie liebt die schnellen Zyklen, die vielen Deadlines, die Erfahrung eigener Wichtigkeit und erfüllt deshalb gerne die Anforderung der ständigen Erreichbarkeit. In ihrer ersten Sitzung beschreibt sie es so: "In meinem Kopf sind immer mindestens zehn Tabs gleichzeitig offen. Multitasking ist eigentlich kein Problem für mich – aber offensichtlich für meinen Körper. Mein Doc findet zum Glück nichts, was er organisch behandeln müsste, aber ich gehe langsam auf dem Zahnfleisch. Selten schlafe ich durch vor lauter ‚denk an dies, denk an das‘. Immer öfter habe ich Herzrasen und fühle mich langsam kurz vorm Burnout."
Vordergründig scheint die Logik klar: Je mehr du zu erledigen hast, desto weniger kannst du dir Zeit leisten für Pausen und Regeneration.
Doch wie ist es wirklich? – Beobachte doch einmal, wie du gehst. Ein Bein ist in Bewegung, das andere steht auf dem Boden. Dann steht das andere und das erste bewegt sich. Je schneller du gehst, desto häufiger ist der Wechsel von Aktivität und Ruhe. Würdest du auf die Idee kommen, das Standbein ohne Stand, ohne Pause sofort weiter zu bewegen, würdest du im wahrsten Sinne des Wortes auf die Nase fallen. Und schau dir ein Pendel an. Hohe Dynamik und Geschwindigkeit bis zum Umkehrpunkt. Dort STOPP und Stille. Dann dynamisch zurück zur anderen Seite. Dort erneut STOPP und Stille, bevor das Pendel sich wieder auf den Weg macht. Überall findest du in der Dynamik den Wechsel zwischen Aktivität und Ruhe. Einatmen – Pause, ausatmen – Pause. Einatmen – Pause, ausatmen – Pause. Einatmen – Pause, ausatmen ...
Gerade und weil es vermeintlich im Widerspruch zur Aktivität steht, sind Pausen und Stille die Voraussetzung für jegliche erfolgreiche Aktivität.
Die Ergebnisse der Entspannungs- und Meditationsforschung sind sehr motivierend, wenn es um die Überlegung geht, ob tägliche Zeiten der Stille auch etwas für dich sein könnten. Das, was unter Stress im Körper geschieht – Veränderungen von Hautwiderstand, Muskeltonus, Blutchemie, Puls und Blutdruck – bewegt sich in der Entspannungsphase in genau der entgegengesetzten Richtung.
In Bezug auf Burnout wurde der Nachweis geliefert, dass stressbedingte Überschüsse von Milchsäure, Bluthochdruck, Kopfschmerzen, Migräne, Schlafstörungen und erschöpfungsbedingte Folgebeschwerden durch die tägliche Anwendung einer systematischen Entspannungs- oder Meditationstechnik positiv beeinflusst werden konnten. Aus wissenschaftlicher Sicht ist zweimal zwanzig Minuten Zeit für Stille die empfehlenswerteste und wirksamste Methode zur täglichen Erschöpfungsprävention und Regeneration.
Was den Weg dorthin betrifft, die Technik, die Details der Vorgehensweise, um Entspannung in Geist und Körper zu ermöglichen – da eröffnet sich ein weites Feld oft leidenschaftlicher Diskussionen. Autogenes Training, Progressive Muskelrelaxation, Meditation in unendlich vielschichtiger Ausführung, Entspannung durch Yoga, Tai-Chi, Chi Gong, Achtsamkeitsübungen … Tatsache ist:
Die wissenschaftliche Beweislage des Nutzens täglicher Stilleübungen steht seit nunmehr über fünf Jahrzehnten außer Frage. Die beiden Forscher Wallace und Benson veröffentlichten bereits im Februar 1972 im Scientific American ihren inzwischen legendären Forschungsbericht über die Physiologie der Meditation. Christa Kniffki verglich 1979 Autogenes Training mit den messbaren Auswirkungen der Transzendentalen Meditation. Dann verlegte sich das Forschungsinteresse auf die Progressive Muskelentspannung nach Jacobson (1996). In jüngster Zeit besteht wieder ein erneutes Forschungsinteresse an den Auswirkungen von Meditationsübungen im Rahmen des Achtsamkeitstrainings nach Jon Kabat-Zinn (2013).
Übereinstimmend weisen all diese verschiedenen Forschungsergebnisse darauf hin, dass in der Meditation ein Zustand der Ruhe erfahrbar ist, der tiefer ist als die Ruhe im Tiefschlaf. Während wir eine Meditations- oder Entspannungstechnik ausüben, befinden wir uns in einem Zustand, in dem der Körper messbar zutiefst ruht, während der Geist in voller Bewusstheit verbleibt. Als Indiz für innere Ruhe können Alphawellen gemessen werden, außerdem sind vor allem die Messungen interessant, die aufzeigen, dass sowohl die rechte und die linke Gehirnhälfte als auch die vorderen und die hinteren Gehirnregionen ihre Aktivitäten miteinander synchronisieren.
Im Rahmen der vergleichenden Beobachtungen der Gehirnaktivitäten von Meditierenden mit den Gehirnaktivitäten von Menschen, die gerade erfolgreich ein Problem lösten, konnte nachgewiesen werden, dass Meditierende sich in einem Zustand höchst geordneter Gehirnaktivitäten befinden, der dem Muster während der „Aha-Phase“ des Problemlösens entspricht. Die mystische Formulierung eines „erleuchtet“ arbeitenden Gehirns könnte damit neuropsychologisch nüchterner bezeichnet werden als ein Gehirn, das entspannt und geordnet arbeitet und sich somit in einem optimalen Betriebszustand befindet, um jegliches auftauchende Problem zu lösen. Der gegenteilige Zustand also, zu dem berühmten „Brett vor dem Kopf haben“ in stressigen Prüfungssituationen.
Sowohl Tobias als auch Leonie schauten mich hoffnungsvoll und gleichzeitig etwas hilflos und fragend an. Beide erkannten, dass ihnen Phasen der Stille bei der Bewältigung ihrer hohen Aktivitätsdichte helfen könnten – aber wie praktisch umsetzen?
Zuerst klärten wir deshalb die Grundvoraussetzung. Bei allem, was du in deinem Leben verändern möchtest, bedarf es nicht nur der Klarheit darüber, was du gut findest und in dein Leben integrieren möchtest, sondern auch der Selbsterlaubnis, es dir zuzugestehen.
Tobias erinnerte sich, dass er sich früher ganz selbstverständlich immer wieder kleine Zigarettenpausen genehmigt hatte. Dies erschien ihm legitim. Er beschloss deshalb: Die Seelenpause ist es auch! Er erlaubte sich zunehmend sich Seelenzeit zu nehmen. Immer wieder einige Momente der Stille, des Innehaltens, des Bei-sich-Seins, des In-sich-Seins, In-Sicherheit-in-sich-Seins, des Verinnerlichens und des Selbstsortierens. Und er erlebte dabei, dass dies nicht nur Balsam für seine Seele war, sondern auch dabei half, seinen hohen Blutdruck wieder zu reduzieren.
Auf praktischer Ebene begann Tobias bewusst nach kleinen Momenten der Stille zu suchen. Nach der Schicht sitzt er nun meistens noch kurz im Auto, ohne Radio, ohne Handy. Wenn seine Tochter schläft, liest er zehn Minuten in einem Buch, statt sich auf Netflix zu verlieren.
Und ebenso wie Leonie nimmt er sich immer wieder Zeit für die Drei-Minuten-Technik:
"Für die nächsten drei Minuten ist mir jetzt nichts wichtiger, als einfach nur bequem hier zu sitzen. Einfach nur da zu sein. Einfach nur in mir zu sein. Ich erlaube mir jetzt das schöne Gefühl von:
Jetzt nehme ich mir Zeit für mich.
Das ist jetzt meine Zeit.
Zeit, die mir gut tut.
Ich atme zwei, drei Mal tief durch und gehe dann mit der Aufmerksamkeit von oben nach unten durch meinen Körper, um jeden einzelnen Teil zu entspannen, der noch etwas angespannt ist.
Ich entspanne den Stirnmuskel.
Ich entspanne den Bereich um die Augen.
Ich lasse meinen Kiefer ganz locker.
Ich entspanne den Nacken.
Ich entspanne die Schultern.
Ich entspanne die Oberarme.
Ich entspanne die Unterarme.
Ich entspanne die Hände – ganz entspannt.
Ich lasse meine Bauchdecke ganz locker
und entspanne das Gesäß.
Ich entspanne die Oberschenkel.
Ich entspanne die Waden.
Ich entspanne die Füße – ganz entspannt.
Und wenn ich im Alltag merke, dass die Anspannung noch nicht so richtig gelöst ist, dann gehe ich mit meiner Aufmerksamkeit einfach noch ein zweites Mal durch den Körper…“
Leonie begann damit zu experimentieren, morgens wenn sie aus dem Badezimmer kam, sich einfach als erste Amtshandlung des Tages für fünf Minuten hinzusetzen. Einfach so. Ohne Technik. Einfach nur dasitzen. In Stille dasitzen. Kein Handy, keine Musik. Nur sie, ihr Atem, der Moment. Anfangs hatte sie das Gefühl, als ob sie zerbersten müsse. Die Gedanken rasten. Doch schon nach wenigen Tagen bemerkte sie, dass sie klarer, fokussierter, langsamer und trotzdem effizienter arbeitete. Immer wieder erlaubt sie sich, Ruheinseln in ihren Arbeitsalltag zu integrieren. Irgendwo liest sie etwas von „Digital Detox“ und findet es faszinierend, ab 19:00 Uhr über keinen digitalen Kanal mehr erreichbar zu sein und dennoch am Ende der Woche all das erledigt zu haben, was vorher nur im 24/7-Modus machbar schien. Ihr Output steigt – nicht trotz, sondern wegen der Ruhe. Sie sagt später: "Ich habe geglaubt, nur Aktivität bringt mich ans Ziel. Heute weiß ich: Ruhe ist die Basis jeglicher Aktivität."
Genieße immer wieder den Raum dazwischen.
In ihm passieren die entscheidenden Dinge des Lebens.
Und lass dich von dem weisen Laotse inspirieren, dem Nichtstun auch in deinem Alltag genügend Raum zu geben:
Erreiche den Gipfel der Leere, bewahre die Fülle der Ruhe, und alle Dinge werden gedeihen.
Dein Gert Kowarowsky
… ist die psychotherapeutische Kolumne mit Inspirationen für deine Lebensgestaltung und den Umgang mit schwierigen Lebensthemen. Du findest alle Teile der Kolumne und mehr über den Autor Gert Kowarowsky hier.
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