Was brauchst du wirklich, um dich angekommen zu fühlen? – #90

Das Gefühl, angekommen zu sein, hat wenig damit zu tun, was wir erreicht haben oder mit wem wir zusammen sind. In diesem Beitrag der Serie "Erfahrungen aus der Praxis" zeigt Gert Kowarowsky, wie wir uns entschließen können, angekommen zu sein – hier, jetzt und ganz bei uns.

 Was brauchst du wirklich, um dich angekommen zu fühlen? – #90
© PAL Verlag, unter Verwendung einer Illustration von Christina von Puttkamer

„Schaffe, schaffe, Häusle baue und net nach de Mädle schaue und wenn unser Häusle steht, dann gibt’s noch lang koi Ruh, denn dann spare mir, dann spare mir für a Goisle und a Kuh …“

Viele meiner Patientinnen und Patienten kennen diese schwäbische Liedzeile. Sie drückt ihr eigenes tiefes Empfinden aus: Mach dir keine Illusionen: Du bist nie fertig, du bist nie angekommen. Nach dem Spiel ist vor dem Spiel. Nach dem erreichten Ziel ist vor dem nächsten Ziel. Wenn du erst mal in den Kindergarten kommst, erstmal in die Schule, erstmal im Beruf, in deiner eigenen Familie, in deinem eigenen Zuhause angekommen bist, dann aber! Was dann aber? Für immer glücklich? Für immer zufrieden? Was glaubst du, erreicht haben zu müssen, um in dir das tiefe Gefühl des Angekommenseins zu empfinden?

Zwei Fallbeispiele aus meiner Praxisarbeit

Laura, die mit massivem Burnout in meine Sprechstunde kam, berichtete mir Folgendes:

„Ich hielt mir selbst ständig, wie einem Esel, die Karotte vor die Nase. Ich sagte mir immer wieder: das noch und das noch und das noch. Erst war mein Ziel, Abteilungsleiterin zu werden, dann wollte ich Filialleiterin, dann Gebietsleiterin werden. Und ich habe es geschafft. Dabei habe ich aber auch mich geschafft. Nach jedem erreichten Ziel machte ich diese seltsame Erfahrung der Leere in mir. Nein, das kann es also noch nicht gewesen sein, sagte ich mir deshalb. Da geht noch mehr. Das fühlt sich weit weg an vom Angekommensein.“

Ich fragte sie: „Woran würdest du erkennen können, dass du angekommen bist?“ Sie schaute mich etwas verwirrt an. „Ja, spürt man das denn nicht? Ist das nicht einfach glasklar, wenn das so ist? Darüber habe ich mir bis jetzt noch nie Gedanken gemacht. Aus dem Stegreif heraus könnte ich könnte keine Kriterien einfach so nennen, woran ich das erkennen könnte.“


Dieselbe Frage stellte ich Jan, der mit dem Problem in meine Praxis kam, heiraten zu wollen, und sich dennoch immer wieder mit Zweifeln quälte, weil er sich nicht sicher war, ob er wirklich angekommen war: „Woran würdest du erkennen können, dass du angekommen bist, dass das Suchen ein Ende hat?“ Seine Antwort war präzise und direkt:

„Daran, dass es so ist, wie es jetzt in mir ist. Ich fühle mich wohl in mir, wenn wir zusammen sind. Und ich fühle mich wohl in mir, wenn ich allein bin. Genauso ist es, wenn sie ihre Sachen macht und wenn ich meine Sachen mache. Und so ist es auch, wenn wir unsere Sachen gemeinsam machen. Ich fühle mich frei zu teilen, was in mir ist. Ich fühle mich geliebt mit meinen ganzen Special Effects und ich kann sie mit ihren ganzen Verrücktheiten lieben. Was mich verwirrt ist jedoch, dass dieses Gefühl nicht immer in mir präsent ist. Es kommt und geht, ist mal mehr, mal weniger stark da.“

Das Gefühl des Angekommenseins kannst du körperlich spüren

Das Gefühl des Angekommenseins unterliegt natürlichen Fluktuationen. Am Anfang mehr, je länger es besteht, desto weniger. Ganz offensichtlich hat die Erfahrung von Angekommensein wenig damit zu tun, was du erreicht hast oder den Besonderheiten der Person, mit der du zusammen bist und mit der du zusammenbleiben möchtest. Das Gefühl des Angekommenseins kannst du körperlich spüren.

Deine somatischen Marker

Jede und jeder von uns hat seine eigenen somatischen Marker. Wie alle spüren auf ganz eigene Weise, was uns guttut, wobei wir uns wohlfühlen. Jede und jeder von uns hat spezifische Körpersignale, die uns zeigen: „Aha, jetzt fühle ich mich wohl, das tut mir gut“ und „Oha, jetzt fühle ich mich unwohl, das tut mir nicht gut“. Somatische Marker sind bei dem einen etwa, dass er die Luft anhält, wenn etwas unangenehm wird, bei der anderen das berühmte mulmige Gefühl im Magen bis hin zu Magenschmerzen.

Achte auf deinen Körper. Sicherlich kennst du deine körperlichen Signale, die dir zeigen, dass du dich jetzt wohlfühlst: Du lehnst dich entspannt zurück, deine Schultern sind entspannt, deine Bauchdecke ist weich, ebenso wie deine Lippen sanft und entspannt aufeinanderliegen oder sogar lächeln – keinesfalls jedoch zusammengepresst sind. Wenn du dich wohlfühlst und merkst, dass dir das Zusammensein mit deinem Gegenüber guttut, du keinerlei Leistungsdruck verspürst und du einfach und entspannt ganz du sein kannst. Du fühlst dich im Flow. Ein fließendes inneres Grundgefühl tritt bei den meisten Menschen ein, wenn sie etwas tun, was ihnen guttut oder mit jemandem sind, die oder der ihnen guttut.

Achte auf deine somatischen Marker. Achte darauf, was sich bei dir im Körper härter, angespannter und schwerer anfühlt, wenn dir etwas nicht guttut. Und achte darauf, was sich bei dir im Körper leichter, fließender, entspannter anfühlt, wenn dir etwas guttut. Öffne die Tür weit für alles, was dir guttut.

Du kannst dich entscheiden, dein eigener Wohlfühlort zu sein

Angekommensein hat wenig damit zu tun, was ich da draußen in der Welt erreicht habe oder mit wem ich zusammen bin. Angekommensein ist ein innerer Seinszustand. Ein Ort, an dem du dich wohlfühlst, der nicht irgendwo da draußen liegt, sondern tief in deinem Innersten. Im Zustand des Angekommenseins bist du nicht irgendwann in der Zukunft, sondern immer nur in der Gegenwart. Genau hier, genau jetzt. Wohin auch immer du reisen magst, was auch immer du zu erreichen planen magst, mit wem auch immer zusammen zu sein du dir wünschen magst: Wenn du dich bereits hier und jetzt in dir ganz zuhause fühlen kannst, bist du angekommen.

Und auch hier gilt: nicht immer – aber immer öfter. Die meisten Menschen, mit denen ich darüber gesprochen habe, berichteten mir fast übereinstimmend: „Bei mir kommt und geht dieser Zustand. Und kommt wieder. Und geht wieder. Ist mal mehr, mal weniger stark und stabil. Ist im Laufe meines Lebens ist er allerdings mehr und mehr gewachsen und stabiler geworden.“

Aus dieser wachsenden inneren Fülle heraus zu handeln, bedeutet, stark zu sein, resilient zu sein. Aus dem Gefühl des Angekommenseins heraus zu handeln, bedeutet, weniger zu tun und mehr zu erreichen. In der Gegenwart mit deinem Gegenüber zu sein, bedeutet, Fülle hier und jetzt zu leben und dies nicht auf ein glorreiches Später zu verschieben.

Warte nicht auf ein Angekommensein, das irgendwann, irgendwo, mit irgendwem, nach irgendeinem erreichten Etwas stattfinden wird. In dem Moment, in dem du dich entscheidest, dass dein Wohlfühlort in dir liegt, dass die Person, die du da draußen suchst, um sie aus ganzem Herzen lieben zu können, bereits hier ist, dass du selbst diese Person bist – in genau diesem Moment bist du angekommen. Jetzt. Nicht später. Jetzt. Lebe deine Fülle jetzt. Jeder Tag zählt. Auch heute. Entschließe dich, angekommen zu sein. Hier, jetzt.

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Gert Kowarowsky

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