Wie gehen wir mit unseren Bedürfnissen um? – #92

In diesem Beitrag der Serie "Erfahrungen aus der Praxis" erklärt Gert Kowarowsky, worauf wir bei unseren eigenen Bedürfnissen achten sollten und was wir tun können, wenn wir eher auf Lustgewinn oder Unlustvermeidung konzentriert sind.

Wie gehen wir mit unseren Bedürfnissen um? – #92
© PAL Verlag, unter Verwendung einer Illustration von Christina von Puttkamer

Ich möchte ... Ich brauche ... Ich muss haben ... Ohne geht es nicht!

Mich erstaunt immer wieder, wie unterschiedlich die Bedürfnisse sind, mit denen Menschen zu mir kommen. Bemerkenswert ist auch die große Bandbreite der Intensität, mit der sie diese Bedürfnisse erfüllt haben möchten, ebenso wie die Vielfalt der gesunden und ungesunden Wege zur Erfüllung dieser Bedürfnisse.

Wie geht es dir mit deinen Bedürfnissen? Und was sind überhaupt deine Bedürfnisse? Welche deiner Wünsche lösen in dir ein Mangelgefühl aus, solange sie nicht erfüllt sind? Und wie heftig ist dieses Gefühl? Ist es gleichermaßen intensiv in Bezug auf jedes deiner Bedürfnisse? Wozu sagst du „Ich möchte“ oder „Ich brauche“ oder „Ich muss diese Bedürfnisse erfüllt haben“? Bei welchen Bedürfnissen sagst du aus tiefster Überzeugung: „Ich kann auf gar keinen Fall ohne die Erfüllung dieses Bedürfnisses weiterleben“?

Auch Grundbedürfnisse sind für jeden Menschen individuell gewichtet

Forschende haben sich mit den menschlichen Grundbedürfnissen auseinandergesetzt und verschiedene und sich zum Teil überschneidende Listen dieser Bedürfnisse vorgelegt. Individuell und situationsabhängig kann die Gewichtung dieser Bedürfnisse recht unterschiedlich sein.

  • Da sind zunächst die Bedürfnisse des Körpers: Wir brauchen schadstoffarme Luft zum Atmen, eine verträgliche Umgebungstemperatur, Wasser, Nahrung und Schlaf sowie Hilfe bei Krankheit oder Verletzung.
  • Wir brauchen Sicherheit: Wir brauchen das Gefühl, vor Gefahren geschützt zu sein.
  • Wir haben soziale Bedürfnisse: Geborgenheit, Bindung, Freundschaft, Zugehörigkeit, Liebe, Partnerschaft.
  • Wir haben Ich-Bedürfnisse: Autonomie, Freiheit, Selbstverwirklichung, Potenzialentfaltung, Anerkennung, Wichtigkeit, Wertschätzung, Wahrung unserer Würde, unserer Grenzen, vor allem, der körperlichen.
  • Wir brauchen Spiel, Spaß, Lachen, Freude, Tanz, Bewegung, Sexualität.
  • Wir haben das Bedürfnis nach Transzendenz, also nach der Erfahrung einer das persönliche Selbst überschreitenden Dimension.

Immer dann, wenn deine Bedürfnisse im Wesentlichen erfüllt sind, wirst du dich wohlfühlen und es fällt dir leicht, Lebensfreude zu empfinden. Was aber, wenn einzelne, dir wichtige Bedürfnisse nicht erfüllt sind? Kannst du, wenn du Hunger hast, die angefangene Tätigkeit noch zu Ende bringen? Hat Essen bei dir immer Vorrang, ansonsten würdest du leiden? Oder hat eine Tätigkeit zu Ende zu bringen, wie du es dir vorgenommen hast, oberste Priorität und körperliche Grundbedürfnisse wie Hunger und Durst werden von dir übergangen, ohne dass du darunter leidest? Geht es dir vielleicht sogar so, dass du den dir wichtigen Ideen alle anderen Bedürfnisse unterordnest und daraus körperliche, soziale oder psychische Schäden entstehen können?

Frage dich: Was sind deine wichtigsten Bedürfnisse und was tust du, um sie erfüllt zu bekommen?

Samuel ist so ein Kandidat. Sein Ehrgeiz, unbedingt Leistung zu erbringen, ist getragen von dem tiefen Bedürfnis nach Anerkennung. Dass er beim konzentrierten Arbeiten oft Kopfschmerzen hatte, weil er einfach vergaß zu trinken, konnte er vor seiner Therapie nicht einmal mit seinem ungesunden, übersteigerten Bedürfnis nach Anerkennung in Verbindung bringen.
Achte darauf, wann, wo, unter welchen Umständen und mit wem dir was ganz besonders wichtig ist.

  • Welches Bedürfnis ist dir überwiegend ganz besonders wichtig?
  • Welches in bestimmten Situationen?
  • Ist es Anerkennung? Anderen wichtig sein? Bindung? Autonomie? Freiheit? Selbstverwirklichung? Sicherheit? …

Achte darauf, was deine Hauptstrategien sind, um zu bekommen, was dir wichtig ist, und zu vermeiden, was dir besonders unangenehm ist.

Besteht deine Grundstrategie also eher darin, aktiv auf das zuzugehen, was du haben möchtest, oder bist du mehr damit beschäftigt, Sorge zu tragen, dass du nichts Unangenehmes erlebst? Bist du mehr mit Lustgewinn beschäftigt oder mehr mit Unlustvermeidung?

Übung: Versuche dich in bewertungsfreier Beobachtung

Meine Einladung an Menschen, die darunter leiden, dass ihre derzeitigen Strategien nicht ausreichend erfolgreich, zu anstrengend oder mit zu vielen unangenehmen Kosten verbunden sind, besteht häufig darin, sie zu einem kleinen Forschungsprojekt aufzufordern. Wenn du möchtest, lass dich ebenfalls dazu einladen:

„Achte in den nächsten zwei Wochen darauf, was dir besonders wichtig ist."

Und:

"Achte darauf, was bisher deine Hauptstrategien sind, dieses Bedürfnis zu erfüllen.“

Nach zwei Wochen bewertungsfreier Beobachtung ist es dann an der Zeit für spannende Experimente. Wenn du z. B. festgestellt hast, dass du viel Zeit und Energie aufwendest, um immer im sozialen Mittelpunkt zu stehen und Aufmerksamkeit zu erhalten, experimentiere die nächsten zwei Wochen damit, Zeit genussvoll allein zu verbringen. Wenn du aber im Gegensatz dazu feststellst, dass du viel Zeit und Aufmerksamkeit dafür investierst, Geselligkeit zu vermeiden und der Aufmerksamkeit anderer zu entgehen, experimentiere die nächsten zwei Wochen damit, Zeit vermehrt mit anderen zu verbringen.

Vielleicht stellst du aber auch fest, dass dein Bedürfnis nach Sicherheit und Bindung ganz besonders stark ist, deine Strategie dieses Bedürfnis zu befriedigen jedoch sehr ungünstig ist. Vielleicht hast du entdeckt, dass du dir etwas sehr Ungesundes angewöhnt hast, um in Bindung zu bleiben. Nichts allein zu entscheiden, ohne wiederholt bei anderen nachzufragen und um Bestätigung für deine Entscheidungen zu bitten, kann so ein Muster sein. In diesem Fall empfehle ich, damit zu experimentieren, was geschieht, wenn du die nächsten zwei Wochen alle kleinen und großen Entscheidungen ohne Nachfragen und Rückversicherungen selbst triffst.

Experimentiere mit deiner Bedürfnispyramide. Schau, was passiert, wenn du mit dem, was dir wichtig ist, und wovon du bisher angenommen hast, dass du es unbedingt haben musst, ja, dass es ohne dieses überhaupt nicht geht, anders umgehst. Erlaube dir eine neue Leichtigkeit. Erobere dir die Freiheit zurück, die in jedem „Ich möchte, ich brauche – aber nicht um jeden Preis!“ enthalten ist. Reflektiere deine Bedürfnisse; reflektiere, was dir stimmig erscheint:

Ich möchte ... Ich brauche ... Ich muss haben ... Ohne geht es nicht!

Wo du meinst, ein Bedürfnis um jeden Preis erfüllt haben zu müssen, wo du meinst „Es geht nicht ohne“, da ist es ganz besonders lohnenswert für dich hinzuschauen. Mache dir die Kosten bewusst, die du bisher dafür zu zahlen bereit warst. Bedenke, wie viel Zeit, Geld, Energie, Gesundheit, Selbstaufgabe, Einbuße an Zufriedenheitserlebnissen du bisher bereit warst für diese Bedürfnisse zu investieren. Bedürfnisse, von denen du bislang überzeugt warst, dass es ohne deren Erfüllung, für dich keine Lebensfreude mehr geben könnte.

Lass dich einladen zu diesem Forschungsprojekt: Sei neugierig darauf, herauszufinden, welche Bedürfnisse dir ganz besonders wichtig sind. Und experimentiere mit neuen, ungewohnten und für dich günstigeren Verhaltensweisen zur Erfüllung deiner Bedürfnisse.

Experimentiere auf jeden Fall mit der neuen Leichtigkeit und dem Mehr an Lebensfreude, die entsteht, wenn du nach diesem vielleicht für dich neuen Gedanken handelst:

Ich möchte - aber nicht um jeden Preis!

Viel gute neue Erfahrungen damit wünscht dir

Dein Gert Kowarowsky

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