Vor lauter "Sich um andere kümmern" vernachlässigen viele häufig das Kümmern um sich selbst. In diesem Beitrag der Serie "Erfahrungen aus der Praxis" zeigt Gert Kowarowsky zehn Bereiche, in denen wir die Selbstfürsorge in unseren Alltag integrieren und üben können.
Im vorletzten Newsletter ging es um die Ermutigung, sich selbst gut zu finden und zu loben. Noch viel schwerer tun sich viele Menschen damit, sich gut um sich selbst zu sorgen. Allein das Wort – Selbstfürsorge – erscheint vielen wie ein fremdes, unbekanntes Wort. Sich um andere und für andere zu sorgen, ist uns allen wesentlich vertrauter.
Was aber lernen wir im Erste-Hilfe-Kurs? Bevor du aus deinem Auto aussteigst, leg deine Sicherheitsweste an! Sorge zunächst für deine eigene Sicherheit, damit du in deiner Fürsorge für deine Mitmenschen nicht selbst zu Schaden kommst. Selbstfürsorge zuerst! Nur auf dieser Grundlage ist Fürsorge für andere gesund und dauerhaft möglich.
Was, außer einer Warnweste in einer Unfallsituation, gehört nun zu einer wirklich umfassenden und alltagstauglichen Selbstfürsorge?
Gerade sehr sozial eingestellte Menschen und ganz besonders diejenigen, die in sozialen Berufen arbeiten, neigen dazu, sich für andere zu verausgaben bis hin zum Burnout. Sie machen sich oft so intensiv Sorgen um andere, dass sie selbst erkranken.
Der Begriff Burnout ist nicht, wie viele meinen, in der Industrie entstanden, sondern im Sozialbereich. Der deutsch-amerikanische klinische Psychologe Herbert Freudenberger beschäftigte sich als erster wissenschaftlich mit dem Phänomen Burnout. Er schrieb schon 1974 einen ersten Artikel über „Staff Burn-Out“. Er selbst arbeitete von 8 bis 18 Uhr in seiner Praxis als Psychoanalytiker für seine Patientinnen und Patienten. Darüber hinaus half er ehrenamtlich, bis spät in die Nacht, vielen ehemals drogenabhängigen Jugendlichen, bis er sich selbst zunehmend erschöpft, ausgelaugt, abgeschlagen, müde und resigniert fühlte. Zu seinem eigenen Entsetzen verhielt er sich immer unausgeglichener und gereizter sogar gegenüber den Menschen, für die er all dies tat. Er erkannte, dass es seine Art zu leben war, nämlich sich ganz der Fürsorge für andere zu widmen, die ihn in diesen Zustand totaler psychischer und physischer Erschöpfung gebracht hatte. Wie schon im 12. Jahrhundert der Abt Bernhard von Clairvaux kam er zu der Erkenntnis:
Keine Fürsorge ohne Selbstfürsorge!
Bernhard von Clairvaux gebrauchte für diesen Zusammenhang das schöne Bild einer Brunnenschale, die erst dann an die nächste Schale weitergibt, wenn sie selbst vollständig gefüllt ist. Selbstfürsorge bedeutet,
Selbstfürsorge ist die unabdingbare Basis psychischer und körperlicher Gesundheit.
Worin liegt nun die Kunst alltäglicher Selbstfürsorge? Was füllt die Schale der Liebe, von der Bernhard von Clairvaux spricht? Wie kannst du deine Schale füllen, damit der Überfluss deiner Energie an andere weitergegeben werden kann, ohne selbst Schaden dabei zu nehmen?
Auf praktischer Ebene lohnt sich ein Blick auf die Ergebnisse der Burnout-Forschung. Diese Top Ten der Selbstfürsorge haben sich als besonders hilfreiche Strategien erwiesen, um auch in schwierigen und anstrengenden Lebensphasen deine Kraft und deine Lebensfreude zu bewahren. Nur dann kannst du auf gesunde Art und Weise, ohne selbst Schaden zu nehmen, dauerhaft für andere Sorge tragen.
Nimm dir jeden Tag Zeit für Stille. Es ist egal, ob du dabei auf strukturierte Art und Weise vorgehst oder nicht.
Lukas hat es sich angewöhnt, jeden Tag 20 Minuten zu meditieren. Laura praktiziert die Progressive Muskelentspannung. Hannah hat es sich zur Gewohnheit gemacht, wenn sie nach Hause kommt, erst einmal bei einer Tasse Tee am Fenster zu sitzen und einfach den Blick ins Freie schweifen zu lassen. Alle drei sind sich darüber einig, dass ihnen diese Zeit für sich so wichtig ist, dass sie sich das nicht mehr nehmen lassen wollen. Und wenn mal wieder die alte Gewohnheit, eben noch schnell dies oder jenes zu tun, sie davon abhalten möchte, sagen sie zu sich selbst so etwas wie: „Doch, jetzt nehme ich mir diese Zeit. Das ist jetzt meine Zeit – Zeit, die mir guttut.“
Eines der wichtigsten Elemente der Selbstfürsorge scheint es zu sein, immer wieder bei sich selbst anzukommen. Selbstrückbezug zu erfahren. Die stille Ebene des eigenen Innersten genießen zu können. Sich Zeit zu nehmen, einfach nur da zu sein. In sich zu sein, ganz in sich zu sein. Das tiefe Gefühl spüren zu können, in Sicherheit in sich zu sein.
Die besten Vorsätze zur Selbstfürsorge bleiben auf der Strecke, wenn DU in deinem Tagesplan nicht vorkommst. Deshalb gewöhne dir an, Verabredungen mit dir selbst zu treffen. Trage in deinem Tages- und Wochenplan die Zeiten, die du für dich und deine Bedürfnisse reservieren möchtest, genauso gewissenhaft ein wie all die Aufgaben, die du für andere tun möchtest. Wieder und wieder: Frei-Zeit für dich.
Selbstfürsorge bedeutet auch zu wissen, was genau du dir heute Gutes tun möchtest. Was macht dir Spaß? Kunst? Kultur? Erotik? Experimente? Was möchtest du dir gerne jeden Tag geben von dem, was dir guttut, wovon du weißt, dass du dich dabei wohlfühlst? Was willst du dir heute ganz konkret nicht nur zum Ausgleich für die Arbeit, sondern als bewusste Gestaltung deines Lebens gönnen? Woran möchtest du dich wenigstens einmal die Woche erfreuen? Was möchtest du dir zusätzlich einmal im Monat gönnen? Was wenigstens einmal im Jahr? Was wenigstens einmal in deinem Leben?
Denke daran: Du hast nicht nur einen Körper, zuallererst bist du dein Körper. Sicherlich bist du weit mehr, aber zuallererst bist du dein Körper. Wenn du nicht auf liebevolle Art und Weise mit deinem Körper umgehst, ist das gleichbedeutend damit, nicht sehr liebevoll dir selbst gegenüber zu sein.
Experimentiere für dich. Finde heraus, was dir an körperlicher Selbstfürsorge wirklich Spaß macht. Ist es Joggen? Fahrradfahren, Schwimmen, Nordic-Walking, lange Spaziergänge, Wandern, Klettern, Übungen an Geräten, Fußballspielen, Handballspielen, Volleyballspielen, Basketballspielen, Reiten, Yoga, Tai-Chi, Tanzen, Sauna, Massage, Kosmetik, das genüssliche Entspannungsbad oder, oder, oder? Was auch immer. Auf jeden Fall sorge für ausreichend viel Nachtschlafzeit und Zeit für Bewegung, am besten in der Natur. Iss das, was dir schmeckt und gesund ist. Erspare deinem Körper Nahrung, die dir nicht guttut.
Allein geht‘s – gemeinsam geht‘s besser!
Wie wichtig es ist, dein eigenes soziales Netzwerk zu pflegen, wird deutlich in einer Studie, die in der Universität Göteborg durchgeführt wurde. Es wurde festgestellt, dass in einem Zeitraum von sieben Jahren beruflich stark belastete Führungskräfte, die über ein gut funktionierendes soziales Netzwerk verfügten, zwei Drittel weniger Herzinfarkte, Bluthochdruckkrisen und Gefäßerkrankungen erlitten im Vergleich zu ihren sozial isolierten Kolleg:innen.
Soziale Unterstützung mindert nachweislich Belastung und Stress. Dein soziales Netzwerk bedarf aber auch immer wieder der aktiven Pflege, um für alle Beteiligten nährend zu bleiben.
Gönne dir die Zeit, dir deines eigenen sozialen Netzwerks bewusst zu werden. Lena zeigte mir in einer ihrer Therapiestunden ganz stolz, wie sie ihr soziales Netzwerk praktisch jederzeit und überall vor Augen haben konnte. In ihrem Smartphone speicherte sie unter A1, A2, A3 … A10 ihre wichtigsten sozialen Kontakte ein.
Mit wem wünschst du dir in der nächsten Zeit mehr Kontakt? Lass es die andere, den anderen, die anderen wissen. Heute stehen dir dazu mehr Sendekanäle zur Verfügung als jemals zuvor in der Geschichte der Menschheit.
Zögere nicht, dich mit den Menschen, die dir nahestehen, auszutauschen über das, was dich beschäftigt. Frage diese Menschen um Rat.
Du weißt ja: Wir alle sind die besten Problemlöser:innen, wenn es um die Probleme anderer Leute geht … Die Kollegin Maja Storch und ihr Mann Wolfgang Tschacher haben hierzu einen besonders praktischen Ansatz. Sie schlagen folgende Formulierung vor:
„Ich tue mich schwer mit … und sammle gerade Lösungsideen für meinen Ideenkorb, was wäre deine Idee dafür?“
Sie erklären auch, weshalb sie diese Formulierung für sehr hilfreich halten: „Der Vorteil eines Ideenkorbs liegt auf der Hand: Ideen können einfach gesammelt und hinterher nach der eigenen Stimmigkeit ausgewählt werden, ohne dass mir die Ideengeber böse sein müssen, wenn ich ihre gute Idee nicht sofort annehme und umsetze.“
Wenn du üblicherweise immer die oder der Zuhörende und Ratgebende bist oder gar professionell zur Gruppe der Helfenden gehörst, ist es geradezu eine Verpflichtung, im Sinne deiner gesunden Selbstfürsorge, Menschen zu haben, mit denen du frei von der Leber weg über alles sprechen kannst, was dich belastet. Sprich über deine eigenen Sorgen und Probleme mit den dir vertrauten Menschen aus dem Kernbereich deines eigenen sozialen Netzwerks.
Lukas brachte es auf den Punkt: „Für mich ist mein Freund, mit dem ich mich offen und ehrlich austauschen kann, ein wahrer Segen!“
Wenn du feststellst, dass du in einzelnen Situationen in deinem Leben auch mit Hilfe von Freund:innen nicht weiterkommst, dann macht es Sinn, dir rechtzeitig professionelle Hilfe zu holen – beruflich und privat. Vor allem alle professionell Helfende, die ihre Arbeit ernst nehmen, sollten auf den Vorteil regelmäßiger eigener Therapie und Selbsterfahrung sowie auf regelmäßige berufliche Supervision nicht verzichten.
Alina, die als Gesundheits- und Krankenpflegerin selbst in einer psychosomatischen Klinik als Co-Therapeutin arbeitet, meinte auf meine Frage, ob es für sie schwierig sei, jetzt als Patientin hier bei mir zu sein, kurz und bündig: „Eine Helferin, die sich nicht helfen lässt, der ist nicht zu helfen, und früher oder später wird sie niemandem mehr helfen!“ Dem ist nichts hinzuzufügen.
Was auch immer dein Beruf sein mag, die Erfahrung zeigt, dass diejenigen, die sich regelmäßig fortbilden, mit höherer Lebendigkeit, höherer Ausgeglichenheit und höherer Kompetenz an die tägliche Arbeit gehen, mehr Spaß und Freude dabei haben und sich weniger ausgebrannt fühlen. Regelmäßige berufliche Fortbildung hilft dir nachgewiesenermaßen dabei, den Spaß bei deiner Arbeit nicht zu verlieren und erfolgreicher zu arbeiten.
Vanessa berichtete nach einer Fortbildungsveranstaltung in ihrer Therapiesitzung folgendes: „Ich fühle mich gerade wie frisch gebadet in einem herrlich klaren Gebirgsbach neuer Erkenntnisse. Es tut mir so gut, den Berufsalltag ab und zu für ein paar Tage hinter mir zu lassen und zu erleben, dass sich vieles in meinem Arbeitsfeld weiterentwickelt. Ich glaube, ohne immer wieder neue Anregungen zu erhalten, würde es mir ansonsten bald aus den Ohren stauben. Ja, ich genieße es, mich immer wieder fortzubilden. Für mich bedeutet das Selbstfürsorge vom Feinsten."
Jenseits der Belebung durch neues berufliches Wissen lohnt es sich auch generell, Neugier und Offenheit für neue Erfahrungen beizubehalten oder wieder neu zu entwickeln. Neotenie, wie der Fachbegriff heißt, also genau diese Neugier und Offenheit für neue Erfahrungen, hat sich als ein wesentlicher Faktor für Langlebigkeit und Gesundheit bis ins hohe Lebensalter erwiesen. Wenn du also wirklich gut für dich selbst sorgen möchtest, bewahre dir deine kindliche Neugier und die Offenheit, dich immer wieder auf den Fluss des Lebens einzulassen. Erlaube dir immer wieder neue Lebensräume zu betreten.
Lass dich durch die Top Ten der Selbstfürsorge dazu anregen, dir mehr und mehr davon zu gönnen.
Lass die Welt um dich herum wissen, was du möchtest - und was du nicht möchtest.
Genieße es zu geben - anderen und dir selbst.
Genieße es zu empfangen - von anderen und von dir selbst.
Ich wünsche dir viel Freude dabei, dein Leben zu leben, entspannt im Hier und Jetzt, getragen von Bewusstheit, Verständnis, Freundlichkeit und Selbstfürsorge.
Dein Gert Kowarowsky
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