Angstfrei im Hier und Jetzt – #112

In diesem Beitrag der Serie "Erfahrungen aus der Praxis" zeigt Gert Kowarowsky, warum Ängste im Hier und Jetzt kaum eine Chance haben. Erfahre in diesem Beitrag 7 Wege zu einem angstfreien Leben.

Angstfrei im Hier und Jetzt – #112
© PAL Verlag, unter Verwendung einer Illustration von Christina von Puttkamer

Neben Depression ist das Thema Angst eines der häufigsten Anliegen, mit dem Menschen zu mir kommen.
Bei den vorgebrachten Ängsten lassen sich mehrere Unterformen voneinander unterscheiden:

  • Agoraphobie – die Angst vor Menschenmengen, öffentlichen Plätzen, dem Reisen allein, Reisen weit weg von zuhause oder eben sich überhaupt jenseits der als sicher erachteten Lebensräume zu bewegen.
  • Soziale Phobie – die Angst, im Zentrum der Aufmerksamkeit zu stehen oder sich peinlich oder erniedrigend zu verhalten.
  • Spezifische Phobie – die Angst vor etwas ganz Bestimmten, etwa vor Spinnen, Hunden oder Mäusen. Aber auch vor bestimmten Situationen, wie die Angst im Fahrstuhl zu fahren, auf einen Aussichtsturm oder in den Keller zu gehen.
  • Generalisierte Angststörung – die nahezu immerwährende Angst vor allem Möglichen, was so an unerwünschten alltäglichen Ereignissen oder Problemen auf dich oder deine Liebsten zukommen könnte.
  • Panikstörung – wiederholte Panikattacken, die nicht auf eine spezifische Situation oder ein spezifisches Objekt bezogen sind und meistens spontan auftreten, also nicht wirklich vorhersagbar sind. Das Unangenehme an diesen Panikattacken ist ihr abruptes und heftiges Auftreten. Der Körper ist in Aufruhr: Herzklopfen, Schweißausbrüche, Beklemmungsgefühle, Schwindel, die Angst durchzudrehen oder gar an diesem ganzen inneren Wirbelsturm körperlicher Reaktionen zu sterben.

All diesen Formen der Angst ist eines gemeinsam:

Angst bezieht sich immer auf die Zukunft.

Angst ist immer nur möglich in Bezug auf eine vorgestellte schreckliche Zukunft

Angst ist ein mächtiger Begleiter des menschlichen Geistes. Sie schleicht sich in unsere Gedanken ein, flüstert Zweifel und Unsicherheit, malt Bilder von kommenden Horrorszenarien und wirft damit mächtige Schatten auf unsere Zukunft. Im Blick zurück jedoch, bezogen auf die Vergangenheit, existiert Angst nicht. Ich habe noch nie jemanden sagen hören: "Ich habe solche Angst, dass ich gestern zu spät hätte kommen können.“ Angst gibt es nur in Bezug auf das, was kommt. Oder genauer gesagt: Angst gibt es nur in Bezug auf das, was ich befürchte, was auf mich zukommen könnte. Oder noch genauer – und dies trifft auf ganz besonders intensive Ängste und Panikattacken zu: Intensive Angst und Panik sind nur möglich in Bezug auf das, wovon ich überzeugt bin, dass es ganz sicher so und nicht anders auf mich zukommen wird.

Daraus folgt die erstaunliche Erkenntnis: Diese Angst, die so oft mit dem Morgen und Übermorgen verknüpft ist, hat im Hier und Jetzt kaum eine Chance. Leonie hatte dies sofort verstanden und kombinierte blitzschnell: "Sie meinen also, wenn jetzt hier in dieser angelehnten Tür der Kopf eines Tigers erscheinen würde, dann wäre meine Angst nur möglich, wenn ich in meinem Kopf den Ereignisfilm vorspulen und bereits innerlich sehen würde, wie der Tiger mit einem Satz bei mir wäre und mich verspeiste?

Genau das ist es, was bei ALLEN Ängsten stattfindet. Angst ist immer nur möglich in Bezug auf eine vorgestellte schreckliche Zukunft. "Wenn wir bei deinem Tigerbeispiel bleiben“, schlug ich Leonie vor, "kann uns dies dabei helfen, ein noch tieferes Verständnis über Ängste und ihre Überwindung zu entwickeln. Stell dir vor, du stehst im Zoo vor dem Tigergehege, dicke Stahlgitter zwischen dir und dem Tiger. Hast du da Angst vor dem Tiger?"Natürlich nicht“, antwortete Leonie, "er kann mir ja nichts tun!“ Sie lächelte und fügte nach einer kurzen Pause hinzu: "Es sei denn, ich käme jetzt auf die Idee, die Gitterstäbe wären nicht hoch genug, der Tiger könnte sie mit einem kraftvollen Sprung überwinden ... und nun der Horrorfilm in meinem Kopf abläuft, in wenigen Sekunden von ihm gefressen zu werden … WOW, das ist ja cool! Jetzt versteh ich es noch klarer: Nicht der Tiger oder irgendeine Situation macht mir Angst, sondern meine feste Zukunftsüberzeugung, dass eine Katastrophe unvermeidbar eintreten wird!

Gleiches gilt auch für Panikattacken. Wie intensiv auch die inneren körperlichen Aktivitäten sein mögen, die intensive Angst, die Panik, bezieht sich immer auf die erwartete Katastrophe, die in meiner inneren Überzeugung auf jeden Fall eintreten wird, wenn das innere Tohuwabohu nicht sofort aufhört.

Dein Luftschutzbunker, in den du dich jederzeit begeben kannst, wenn dich die Angst mal wieder zu sehr im Griff hat, ist das Hier und Jetzt. Ängste sind nur möglich in Bezug auf die Zukunft. Ängste haben viel zu tun mit angstvollen Zukunftsgedanken.

Die Geschichten von Patrick und Katharina

Patrick ist ein wahrer Meister im Ausmalen von Szenarien, die noch nicht eingetreten sind. "Was, wenn ich versage?”, "Was, wenn ich nicht genug bin?” ,"Was wenn …“ Solche Fragen spuken permanent in seinem Kopf herum und rauben ihm bisweilen sogar den Schlaf. Damit befindet er sich in guter Gesellschaft mit dem französischen Philosophen Michel de Montaigne (1533–1592), der jedoch treffend etwas Zusätzliches erkannte:

"Mein Leben war eine einzige Serie von Katastrophen - von denen die meisten niemals eingetreten sind."

Die Zukunft ist ein unbeschriebenes Blatt, und nur im Hier und Jetzt kannst du den Stift führen, um es zu beschriften. Katharina tat sich zu Beginn ihrer Therapie sehr schwer mit dem Gedanken, sich auf das Hier und Jetzt einzulassen, um angstfreier werden zu können: "Für mich bedeutet der Gedanke an ein Leben im Hier und Jetzt so etwas wie eine Einladung zu Faulheit und Unorganisiertheit. Eine Aufforderung dazu, wie ein zotteliger Hippie verantwortungslos auf einer Parkbank in den Tag hineinzuleben.“  Im Rahmen ihrer Therapiegespräche und eifriger wissenschaftlicher Literaturstudien konnte sie sich jedoch davon überzeugen, dass das Gegenteil der Fall ist. Sie erkannte, dass es vielmehr ein Zustand der Präsenz, der Effektivität und der Kreativität ist und dass ihr im Jetzt angstfreier eine höhere Leistungsfähigkeit möglich ist – nicht als Träumerin, sondern als aktive Gestalterin des Lebens.

Ebenfalls erkannte sie, dass das Leben nur im Hier und Jetzt stattfinden kann. Sie fasste es so zusammen: "Gestern ist vorbei und morgen ist noch nicht da. Der einzige Zeitpunkt, an dem wir wirklich leben können, ist jetzt. Selbst wenn wir uns vornehmen, das Leben in der Zukunft zu genießen, werden wir es letztendlich im Jetzt tun. Denn auch in der Zukunft gibt es nur ein Jetzt.“  
Und sie fügte eine sehr bedeutsame Frage hinzu: "Wie kann ich auf praktischer, alltäglicher Ebene in dieses angstfreie Feld des Hier und Jetzt gelangen?

7 Wege zum angstfreien Hier und Jetzt

Weg 1:Komm zu Sinnen

SPÜRE den Sonnenstrahl auf deiner Haut, RIECHE den Duft von frisch gebrühtem Kaffee, SCHMECKE die Erdbeere in deinem Mund, HÖRE das Lachen des Kindes auf der Schaukel, SIEH die Blüte im Blumenbeet – all das sind kostbare, angstfreie Momente im Hier und Jetzt, in die dich deine Sinne führen.

Weg 2:Praktiziere Achtsamkeit

Halte zwischendurch immer wieder inne. Erlebe den Moment bewusst, ohne Ablenkung. Das Hier und Jetzt ist das Feld der Achtsamkeit. Achtsamkeit ist die Überschalltechnik, die dich in das angstfreie Feld des Hier und Jetzt bringt.

Weg 3:Lass los

Lass die Vergangenheit los und plane die Zukunft nicht übermäßig. Lass los! Loslassen, loslassen, loslassen – immer wieder loslassen. Im Jetzt bist du frei von alten Lasten und zukünftigen Befürchtungen.

Weg 4:Sei dankbar

Dankbarkeit für das, was du hast, was dir begegnet, was du erlebst, ist eine weitere Möglichkeit, dir selbst die Tür zu öffnen zum Hier und Jetzt. Ein einfaches “Danke” kann dich immer wieder sanft ins Jetzt zurückholen.

Weg 5:Geh immer wieder hinaus unter den freien Himmel

Decken über dir können bedrückende, sorgenvolle Gedanken fördern – egal ob Zimmer-, Auto-, Bus-, oder Bahndecke. Bewegung unter freiem Himmel in der Natur bewirkt das Gegenteil: Spaziergänge, Yoga, Tai Chi im Freien, Gartenarbeit – all das verbindet dich mit dem Hier und Jetzt. Die Natur ist der perfekte Ort, um im Moment zu sein.

Weg 6:Lebe deine Kreativität

Male, schreibe, musiziere – kreative Aktivitäten bringen dich in den angstfreien Flow-Zustand im Hier und Jetzt, in dem die Zeit stillzustehen scheint.

Weg 7:Tue, was dir guttut

Sei mutig, tue, was dir guttut. Lebe dein Leben lieber abenteuerlich im Hier und Jetzt, anstatt dir von deinem Kopf in der Zukunft auf dich zukommende Pseudo-Horrorgeschichten vorgaukeln zu lassen.

Vergiss nie: Die Angst mag in der Zukunft lauern, aber im Hier und Jetzt ist sie machtlos. Lass dich von diesem angstfreien Feld tragen und lebe deine Lebensfreude in seiner vollen Pracht – im Jetzt!

Im Hier und Jetzt streckt die Zeit ihre Flügel und breitet den Augenblick aus. Im Hier und Jetzt, wenn es in seiner vollen Pracht erstrahlt, verblassen Vergangenheit und Zukunft. Hier, in diesem angstfreien Feld, bist du frei von den Fesseln der Sorgen und kannst den Moment in seiner ganzen Intensität erleben.


Genieße deine Lebensfreude!

Dein

Gert Kowarowsky

 

Erfahrungen aus der Praxis …

… ist die psychotherapeutische Kolumne mit Inspirationen für deine Lebensgestaltung und den Umgang mit schwierigen Lebensthemen. Du findest alle Teile der Kolumne und mehr über den Autor Gert Kowarowsky hier.

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