NEIN! ist ein vollständiger Satz – #126

In diesem Beitrag aus der Reihe „Erfahrungen aus der Praxis“ zeigt Gert Kowarowsky, warum es dabei hilft, die eigenen Körpersignale zu beobachten, wenn wir Grenzen setzen, und wie wir lernen können, nein zu sagen, ohne uns dafür entschuldigen zu wollen.

NEIN! ist ein vollständiger Satz – #126
© PAL Verlag, unter Verwendung einer Illustration von Christina von Puttkamer

"Ich kann einfach nicht NEIN sagen!" Diesen Satz höre ich leider häufig, wenn Menschen vor mir sitzen, die völlig erschöpft sind.

Ja, andere verlangen oft sehr viel von dir. Ja, andere brauchen immer wieder einmal deine Hilfe. Ja, es ist auch sehr schön, anderen zu helfen. Und nein, du hast nicht unendlich viel Energie. Und nein, du kannst und willst nicht immer für andere da sein.

Und ja, da gibt es auch diese tiefe Angst in dir, nicht mehr geliebt zu werden, wenn du NEIN sagst. Es gehört zu den menschlichen Grundbedürfnissen, von anderen positiv gesehen zu werden, anderen wichtig zu sein, andere zuverlässig um dich herum zu haben, von anderen selbst unterstützt zu werden.

Und gleichzeitig gibt es den Drang, dein eigenes Ding zu machen und deine Grenzen gewahrt zu wissen.

3 Fragen, um mit dir selbst in gutem Kontakt zu stehen

Die optimale Voraussetzung, um diese Sehnsüchte miteinander zu vereinbaren, liegt darin, in allen sozialen Kontakten gleichzeitig in sehr gutem Kontakt mit dir selbst zu sein. In gutem Kontakt mit dir selbst zu sein bedeutet, spüren zu können, wann und wo und in welchem Ausmaß etwas für dich zu tun stimmig ist oder auch nicht. Konkret bedeutet das, dir die folgenden Fragen beantworten zu können:

  • Woran erkennst du, wann das Vergnügen für dich aufhört?
  • An welcher Stelle im Körper spürst du die ersten Anzeichen von Unbehagen, wenn du um etwas gebeten wirst, was du nicht tun möchtest?
  • An welcher Stelle in deinem Körper spürst du zuerst, wenn dir eine Situation zu viel wird, wenn du anfängst, diese Situation als belastend zu erleben?

So verschieden kann sich Unbehagen anfühlen

Manche meiner Patientinnen und Patienten bekommen Rückenschmerzen oder Kopfweh. Andere werden unruhig. Manche spüren in solchen Momenten intensive Wellen in ihrem Körper, Wellen, bei denen ihnen heiß wird, Wellen der Panik, die durch sie hindurch schießen. Sturzfluten von Gedanken, wie: "Oh, nein! Ein Nein wird jetzt dazu führen, von meinem Gegenüber abgelehnt zu werden."

Bei Max führte der Impuls, NEIN zu sagen, immer sofort zu einer Welle massiver Selbstzweifel. Durfte er wirklich sich selbst wichtiger nehmen als das Anliegen seines Gegenübers? In solchen Momenten spürte Max dann manchmal aber auch so gut wie gar nichts mehr. Er fühlte sich dann wie taub und empfindungslos. Ein Gefühl der Leere umgab ihn. Nicht selten spürte er erst hinterher, wenn er getan hatte, was er vermeintlich unabdingbar hatte tun müssen, wie verspannt seine Muskeln dann waren, wie sehr ihm der Magen wehtat und wie der Druck im Kopf einfach nicht mehr nachlassen wollte.

Beginne damit, deine Körpersignale zu beobachten

Das Wichtigste für Max war deshalb, seine Körpersignale rechtzeitig wahrzunehmen, um in solchen Situationen besonders bewusst auf seine Grenzen zu achten und angemessen mit sich und seinem Gegenüber umzugehen. Nach zwei Wochen systematischer Selbstbeobachtung hatte er eine präzise Liste seiner roten Signallämpchen. Er wusste jetzt, dass es immer dann, wenn andere etwas von ihm verlangten, galt, ganz besonders bewusst und wach zu sein, um rechtzeitig NEIN zu sagen, wenn er folgendes bemerkte:

  • Jetzt ziehe ich wieder meine Schultern hoch.
  • Jetzt presse ich die Zähne aufeinander.
  • Jetzt halte ich die Luft an.
  • Jetzt verspüre ich dieses flaue Gefühl im Magen.
  • Jetzt ist da wieder dieses typische Ziehen in der Brust.
  • Jetzt wird mein Hals eng und rau.
  • Jetzt sind in meinem Kopf nur noch Nebelschwaden.
  • Jetzt fühle ich mich empfindungslos und wie betäubt.

Was immer dein erstes minimales Anzeichen auch sein mag – es ist gut, es zu kennen. So wird es dir viel leichter möglich sein zu denken: "Aufgepasst! Wenn ich jetzt sage ›Ja, mache ich‹, dann gehe ich über meine Grenze."

Spüre in all diesen sozialen Interaktionssituationen in dich hinein, was du jetzt brauchst, was für dich jetzt zu tun oder nicht zu tun richtig ist.

Nein ist ein vollständiger Satz

Nachdem Max diesen Schritt erfolgreich vollzogen hatte und er seine roten Signallämpchen der Selbstüberforderung gut wahrnehmen konnte, bestand die zweite Aufgabe für ihn darin, sein bisheriges reflexartiges "Ja, das mache ich schon" zu überwinden und sich die Erlaubnis zu geben, NEIN zu sagen. Anfangs meinte er,  jedes NEIN mit einer langen Einleitung und einer differenzierten Erklärung versehen zu müssen. Die Idee, dass "NEIN!" ein vollständiger Satz sein könnte, war für ihn sehr gewöhnungsbedürftig.

Natürlich kannst du, wenn du möchtest, eine kurze Erklärung dazu abgeben, wenn du dich für ein NEIN entscheidest. Du musst es aber nicht. Und schon gar nicht solltest du dich verpflichtet fühlen, eine entschuldigende lange Rede zu halten.

Wenn du durch dein NEIN tatsächlich eine Freundschaft verlieren solltest, kannst du dir überlegen, wie wertvoll diese Freundschaft in Wirklichkeit für dich war. Du kannst gut auf Menschen in deinem Leben verzichten, die dich nicht mehr mögen, wenn du nicht immer und überall sofort das tust, was sie sich von dir wünschen.

NEIN! ist ein vollständiger Satz. Er hilft dir, deine Grenze zu wahren.

Deine Sicherheit zu wissen, dass du deine Grenzen gut wahren kannst, hilft dir dabei, tiefere, entspanntere und lohnendere Beziehungen in deinem Leben zuzulassen.

Genieße dein gesundes Zusammensein mit deinen Lieben!

Dein Gert Kowarowsky

Erfahrungen aus der Praxis …

… ist die psychotherapeutische Kolumne mit Inspirationen für deine Lebensgestaltung und den Umgang mit schwierigen Lebensthemen. Du findest alle Teile der Kolumne und mehr über den Autor Gert Kowarowsky hier.

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