In dieser Beitragsserie berichtet der Psychologe Gert Kowarowsky von den Erfahrungen aus seiner therapeutischen Praxis. Dieses Mal: Warum Grenzen so wichtig sind für gelingende Beziehungen.
Gute, freundschaftliche, enge, liebevolle Beziehungen zu haben und gleichzeitig dem anderen Grenzen zu setzen, schließt sich das nicht gegenseitig aus? Wir brauchen beides – doch wie kriegen wir das unter einen Hut?
Das Denken in Gegensätzen zu überwinden – schwarz oder weiß, alles oder nichts, immer oder nie, ganz oder gar nicht – führt auch beim Umgang mit Grenzen zu mehr und vertiefter gemeinsamer Lebensfreude.
Einige meiner Patienten leiden unter ihrer Einsamkeit. Sie haben einen unüberwindbar hohen Grenzzaun um sich herum aufgebaut aus Angst vor Verletzung, aus Angst vor Nähe. Grenzen sind da, doch keine Beziehungen.
Andere dagegen schaffen es nicht, Grenzen zu setzen aus Angst vor Ablehnung oder aus Sorge, den anderen zu verletzen und dadurch womöglich sogar die Beziehung zu gefährden. Beziehungen sind also da, doch viel zu oft unter Missachtung eigener Bedürfnisse.
In einem Seminar über verschiedene Formen des Begrüßens machte ich hierzu eine erstaunliche Entdeckung, die dabei hilft, dieses Dilemma auf einer tief menschlichen Ebene zu überwinden: "Guten Morgen", "Guten Tag", "Guten Abend" waren der Anfang einer Kaskade dutzender und aberdutzender europäischer, afrikanischer, nord- und südamerikanischer, australischer und asiatischer Begrüßungsformeln in den 195 Ländern dieser Erde.
Ich hatte schon mehrfach gehört, dass indische Geschäftsleute oft ungewöhnlich scharf argumentieren und ihre Verhandlungsgrenzen intensiv zu verteidigen wissen, ohne dass dabei Feindseligkeit den Verhandlungsraum erfüllt.
So wurde ich hellhörig bei der indischen Form der Begrüßung:
„Namasté" - "Ich verneige mich vor der Unendlichkeit in dir“, „Ich verneige mich vor der Göttlichkeit in dir."
Und dem Erwiderungsgruß:
"Namasté" - Auch ich verneige mich vor der Unendlichkeit in dir, auch ich verneige mich vor der Göttlichkeit in dir."
Dies scheint mir ein Schlüssel zu sein, um den Konflikt zwischen Nähe zulassen und Grenzen setzen zu überwinden. Du kannst einen anderen Menschen wertschätzen, sogar lieben, und dennoch Grenzen setzen.
Wenn du die tiefste Essenz des Gegenübers in dir präsent hast und dir dies bei jeder Begrüßung durch solch einen Gruß immer wieder vergegenwärtigst, dann wird es einfach, mit Grenzen umzugehen: "Hey, ich mag dich wirklich gern, aber jetzt trittst du mir gerade auf die Zehen. Das tut mir weh. Gehe bitte einen Schritt zurück!"
So kannst du klar sagen, welches Verhalten du ablehnst und welches Verhalten du dir stattdessen wünschst. Achte dabei darauf, dass du diese grundsätzliche Wertschätzung nicht nur in dir selbst präsent hast, sondern sie auch nach außen transportierst. Das kann durch deine Wortwahl, deine Stimmlage, deinen Gesichtsausdruck, deine Gestik oder eine Umarmung geschehen. Ein Nein ist so viel leichter zu akzeptieren – auch für dich selbst in der umgekehrten Situation.
In der Überzeugung um den gleichen Urgrund, den du mit deinem Gegenüber teilst, kannst du in tiefer Verbundenheit dem anderen klar und deutlich deine Grenzen in vielen Bereichen an der Oberfläche des Lebens aufzeigen.
Sich daran zu erinnern ist ebenfalls ganz besonders wichtig, wenn du bisher Angst vor Nähe hattest aus Furcht davor verletzt zu werden. Auch und vor allem dann, wenn du den anderen sehr liebst und ihm aus tiefstem Herzen zugetan bist, darfst du, kannst du und sollst du dich frei fühlen, immer dann klar Nein zu sagen, wenn es für dich wichtig ist. In dieser Sicherheit, dass du jederzeit fähig und willens bist, notwendige Grenzen zu setzen, ist es dir um so vieles leichter möglich, entspannt, berührbar und offen in Nähe, Liebe und Gemeinsamkeit zu fließen.
Mit dieser Sichtweise grundlegender Wertschätzung kannst du jetzt auch für dich selbst entspannt bleiben, wenn dein Gegenüber seine Grenzen klar aufzeigt und deinen Wünschen und Anliegen gegenüber nicht offen ist. Es bedeutet nicht, dass du als der Mensch, der du bist, abgelehnt wirst. Es bedeutet einfach, dass der andere das, was du jetzt möchtest, nicht möchte.
Egal wie und mit welchen Worten du andere Menschen begrüßt: Wenn du ein Problem mit Grenzen hast, probiere doch einmal aus, was sich für dich verändert, wenn du zusätzlich innerlich deine Begrüßung erweiterst mit:
"Namasté" - "Ich verneige mich vor der Unendlichkeit in dir."
"Namasté" - "Ich verneige mich vor der Göttlichkeit in dir."
Dein
Gert Kowarowsky
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