In diesem Beitrag aus der Reihe „Erfahrungen aus der Praxis“ zeigt Gert Kowarowsky, wie wichtig es ist, für uns selbst einzustehen, wie wir erste Anzeichen von Überforderung erkennen und darauf reagieren können.
Für andere zu sorgen ist vielen meiner Patientinnen und Patienten etwas sehr Vertrautes. Christiane hatte nach dem frühen Tod ihrer Mutter schon mit sieben Jahren die volle Fürsorge für ihre beiden kleineren Geschwister übernommen. Für sie war es das Natürlichste auf der Welt, immer zuerst danach zu schauen, dass die beiden Kleinen alles hatten, was für ihr Wohlbefinden notwendig war. Sie kam zu mir wegen völliger Erschöpfung, was jedoch aus ihrer Sicht ein rein beruflich bedingter Burnout war. Es war ein weiter Weg, ihren Blick zu erweitern von den überzogenen beruflichen Ansprüchen anderer an sie zu den noch überzogeneren Ansprüchen an sich selbst. Eine drastische und positive Wende ergab sich in unserer gemeinsamen Arbeit jedoch außerhalb unserer gemeinsamen Sitzungen, als sie mit inzwischen dreißig Jahren ihre erste Flugreise unternahm.
Sie fand ein bestimmtes Detail der Sicherheitsanweisungen des Flugbegleitpersonals vor dem Start empörend und für sie völlig inakzeptabel: Im Falle eines Druckabfalls in der Kabine zuerst sich selbst die Sauerstoffmaske aufzusetzen und erst danach ihrem mitreisenden Kind behilflich zu sein, war für sie eine undenkbare Verhaltensweise. Im Innersten ihrer Zellen hatte sie immer noch die auch durch unsere gemeinsamen Sitzungen bisher unveränderte Grundüberzeugung: erst die anderen, dann ich.
In den zwölf Stunden bis zur Ankunft an ihrem Zielflughafen kreisten ihre Gedanken jedoch immer wieder um diese Sicherheitsanweisung. Genügend Zeit dazu hatte sie ja. Nachdem ihre ersten heftigen Unmutswellen abgeebbt waren, tauchten in ihr über den Wolken, losgelöst vom Alltag und in der Vorfreude auf den vor ihr liegenden Urlaub, für sie sehr ungewöhnliche, neue Gedanken auf.
Sollte ihr tatsächlich bei der Fürsorge für ihr Kind die Luft ausgehen, vielleicht sogar noch bevor sie ihrer Kleinen die im schlimmsten Fall verhedderte Maske anlegen konnte, wären sie beide verloren. In den langen Flugstunden reifte danach in ihr noch eine viel revolutionärere Erkenntnis heran: "Jetzt verstehe ich", dachte sie, "Selbstfürsorge ist ja gar nicht das Gegenteil von Fürsorge, sondern ganz offensichtlich die notwendige stabile Grundlage, um sich effektiv um andere kümmern zu können."
Für sich selbst zu sorgen, eröffnete sich ihr auf diesem Flug als völlig neues Element – ja, vielleicht das wichtigste Element, als die unverzichtbare Basis insbesondere bei dauerhafter Fürsorge für andere.
Inzwischen ist Christiane als Pflegedienstleiterin in einem Seniorenheim auch für die Ausbildung des Nachwuchses verantwortlich. Seit dieser Erkenntnis auf ihrem Langstreckenflug ermahnt sie die Auszubildenden immer wieder, sich beider Augen zu bedienen. "Achtet immer darauf, eure beiden Augen zu benützen. Bleibt achtsam: Ein Auge nach innen – ein Auge nach außen. Achtet in jedem Moment eurer professionellen Fürsorge für andere darauf, die Selbstfürsorge im Auge zu behalten. Nur so kann eine durch Stress und Überforderung entstandene Gereiztheit vermieden werden. Konstante Selbstfürsorge schützt euch und andere vor ansonsten vorhersagbaren Ungerechtigkeiten und unangemessenem Verhalten gegenüber den Menschen, für die ihr verantwortlich seid. Und dies gilt gleichermaßen hier auf Station wie für euer Privatleben."
In einer unserer gemeinsamen Sitzungen kam Christiane lachend auf die vorhergehende Stunde zurück. "Sie hatten schon recht mit dem, was Sie sagten: Die Lehrerin lernt immer am meisten. Wenn ich das, was ich hier bei Ihnen lerne, im Unterricht weitergebe, wird es mir selbst immer noch klarer. In den letzten Wochen habe ich dadurch besonders deutlich erkannt, dass das wichtigste Element der Selbstfürsorge darin besteht, möglichst früh die ersten Anzeichen von Überforderung zu erkennen und auf geeignete Art und Weise darauf zu reagieren. Besonders geholfen hat mir dabei, als ich mich selbst unterrichten hörte: Es ist wichtig, dass ihr lernt, nein sagen zu können, ohne euch schuldig zu fühlen. Und dies wird euch umso leichter möglich sein, je mehr ihr euch bewusst seid, dass ihr mit eurem notwendigen Nein gleichzeitig ein Ja zu euch selbst sagt."
Gut für dich zu sorgen, ja zu dir zu sagen, geht am besten, wenn du dir bewusst machst, was du brauchst, was deine eigenen Bedürfnisse sind und du dafür auch bereit bist, Zeit einzuplanen: Zeiten der Stille, Zeiten der Aktivität. Zeiten des Alleinseins, Zeiten des Mit-anderen-Seins. Zeit einzuplanen, das zu tun, was dir guttut.
Je wohler du dich fühlst, desto leichter fällt es dir auch, dich um andere zu kümmern, ihre Bedürfnisse wahrnehmen und ihnen in schwierigen Zeiten beizustehen. Gesunde Fürsorge ohne Selbstaufopferung ist immer dann auf Dauer möglich, wenn du deine eigenen Grenzen wahrnimmst und deine eigenen Bedürfnisse kennst.
Sei liebevoll mit dir, damit du auf Dauer liebevoll bleiben kannst mit den Menschen, die deiner Hilfe bedürfen.
Dein Gert Kowarowsky
… ist die psychotherapeutische Kolumne mit Inspirationen für deine Lebensgestaltung und den Umgang mit schwierigen Lebensthemen. Du findest alle Teile der Kolumne und mehr über den Autor Gert Kowarowsky hier.
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