Selbstfreundschaft – #129

Freundschaft mit anderen ist uns meist etwas Vertrautes. Freundschaft mit uns selbst hört sich zunächst seltsam an. Setzt doch Freundschaft ein Gegenüber, ein anderes Wesen als uns selbst voraus. Wer soll also mit wem Freundschaft eingehen und halten bei der Freundschaft mit uns selbst? Bist du nur eine oder einer, die oder der mit sich selbst Freundschaft halten kann? Oder sind wir alle in uns viele?

In der Psychologie sprechen wir von Ego-States, verschiedenen Ich-Zuständen, von Schema-Modi, verschiedenen Betriebszuständen, vom inneren Team, vom inneren Kind, vom Über-Ich, Ich und Es, von der oder dem am Steuer Sitzenden oder von den Mitfahrenden im inneren Bus – dem Omnibus mit allen Persönlichkeitsanteilen von uns zusammen.

Die Herausforderung in der Selbstfreundschaft besteht nun darin, dir mit der gleichen Freundlichkeit, Fürsorge und Akzeptanz zu begegnen, mit der du auch einer guten Freundin oder einem guten Freund begegnen würdest. Und das in allen deinen Betriebszuständen, gegenüber jeder und jedem Einzelnen in deinem kompletten inneren Team.

Selbstfreundschaft mit dir zu schließen bedeutet, dich selbst zu unterstützen, dir Fehler zu verzeihen und dir in schwierigen Zeiten genauso Trost zu spenden wie den Menschen, denen du dich in Freundschaft verbunden fühlst.

Und hier beginnt die Henne-Ei-Geschichte: Ein gesundes Selbstwertgefühl und eine positive Selbstwahrnehmung helfen sehr dabei, mit dir selbst Freundschaft zu schließen und die Vielschichtigkeit deiner Persönlichkeit zu akzeptieren. Gleichermaßen führt der Entschluss, dich als deine beste Freundin, als dein bester Freund zu behandeln, genauso wie du bist, mit all deinen Vorzügen und Schwächen, ganz wesentlich zu einem gesünderen Selbstwertgefühl und zu einer positiveren Selbstwahrnehmung.

Laura protestierte sofort, als sie meinen Vorschlag hörte, mit sich selbst Freundschaft zu schließen: "Ich habe definitiv genug von all den Egozentrikern, die mich umgeben, von den Selbstbeweihräucherern, die nur noch ich, ich, ich sagen und denken – dazu möchte ich nicht gehören!"

Deshalb erklärte ich ihr: "Mit meiner Einladung zur Selbstfreundschaft meine ich, dass du bei dir selbst, wie bei jeder guten Freundin und jedem guten Freund, weiterhin klaren Auges zu sehen vermagst, wo du dich problematisch verhalten hast, jedoch ohne dich dafür abzulehnen oder gar zu hassen. Als deine eigene beste Freundin unterstützt du dich dabei, keine Zeit mit Schuldgefühlen zu verschwenden, sondern stattdessen zu analysieren, wie du es das nächste Mal besser machen kannst und wie ein schon entstandener Schaden wieder gutgemacht werden kann. Auf gesunde Art und Weise Selbstfreundschaft zu pflegen bedeutet, dir gegenüber beides zu sein, verständnisvoll und kritisch, jedoch ohne dich als Person im Ganzen zu verurteilen."

Selbstfreundschaft hat also nichts mit herzlosem Egoismus zu tun, sondern ganz im Gegenteil mit höherer Achtsamkeit auf das, was in dir und um dich herum vorgeht. Selbstfreundschaft beinhaltet auch, dir selbst gegenüber das Verhalten zu zeigen, das dir in Freundschaften völlig natürlich erscheint und oftmals leicht und mühelos von der Hand geht: dich mit deinem Gegenüber zu freuen, zu lachen, zu weinen, zu trösten, darauf zu achten, was dein Gegenüber erfreut. 

Kleine Geschenke erhalten nicht nur die Freundschaft, sie erhalten auch die Selbstfreundschaft. Geh achtsam mit deinen eigenen Wünschen und Bedürfnissen um. Registriere, wenn du dich unwohl fühlst, und gib dir selbst das, was du in diesen Momenten brauchst. Was immer dir guttut, integriere es in deinen Pflicht-Alltag. Auf diese Weise machst du dir selbst immer wieder das so wertvolle AAO-Geschenk. Gib dir das Geschenk, dir selbst immer wieder Aufmerksamkeit zu schenken. Gib dir das Geschenk, dich immer wieder mit deinen Augen liebevoll und wertschätzend zu betrachten. Gib dir das Geschenk, deiner inneren Stimme immer wieder dein Ohr zu leihen und auf sie zu hören.

Deine Aufmerksamkeit, Augen, Ohren - dein AAO-Geschenk - schenke es immer wieder auch dir selbst!

Und erinnere dich, dass es auch dir selbst gegenüber Vergebung und Verzeihen geben darf. Denn Freundschaften können auf Dauer nur bestehen, wenn die unvermeidlichen Verletzungen, Unaufmerksamkeiten und Fehlverhaltensweisen immer wieder vergeben und verziehen werden können. Sei versöhnlich mit dir und deinen vergangenen Missetaten. Lerne daraus und verhalte dich ab jetzt in entsprechenden Situationen bewusster.

Beziehungsbrüche reparieren zu können und die Bereitschaft für Versöhnung und Verzeihen in sich zu pflegen, hilft, Freundschaften auch über Krisen hinweg über Jahrzehnte, ja auch ein ganzes Leben lang aufrechtzuerhalten. Darum wende diese Verhaltensweisen auch dir selbst gegenüber an.

In Freundschaften bist du meist viel offener für den Fluss des Lebens. In Freundschaften bist du immer wieder bereit, mit deiner Freundin, mit deinem Freund neue Felder gemeinsam zu erkunden. Darum erlaube dir in gleicher Weise, dir selbst gegenüber freundschaftlich offen zu sein für die Erkundung all des bisher Ungelebten in dir. Erlaube dir, wohlwollend offen zu sein für all die Anteile in dir, mit denen du bisher noch keine Freundschaft geschlossen hast. Für all die Anteile in dir, die es vielleicht erst noch zu entdecken gilt, von deren Existenz du bisher vielleicht noch gar keine Ahnung hast.

Laura berichtete in ihrer letzten Therapiestunde, dass sie immer wieder an den bekannten Satz denken muss, den sie schon so oft bei Trauungen gehört hatte: "In guten wie in schlechten Tagen …". Mit diesem Satz im Hinterkopf fiel es ihr leichter, auch in kritischen Situationen, wenn sie wieder einmal Mist gebaut hatte, einen freundschaftlichen Blick auf sich selbst aufrechtzuerhalten und sich wohlwollend und weiterhin wertschätzend – eben selbstfreundschaftlich – zu betrachten.

Ich wünsche dir das Allerbeste in deiner neuen Freundschaft mit dir selbst.

Mögen sich viele weitere Freundinnen und Freunde dazugesellen!

Dein Gert Kowarowsky

… ist die psychotherapeutische Kolumne mit Inspirationen für deine Lebensgestaltung und den Umgang mit schwierigen Lebensthemen. Du findest alle Teile der Kolumne und mehr über den Autor Gert Kowarowsky hier.